Oberleutnant der Luftwaffe und SS-Sturmbannführer

* 01.05.1906 in Halle an der Saale
† 05.05.1983 in
Frankfurt am Main

geboren in Halle-Trotha als drittes Kind des in Halle a.d.S. tätigen praktischen Arztes Oskar Paul Schumann und seiner Ehefrau Helene Elsa

09.12.1911
Scheidung der Eltern

1917
Scheidung der zweiten Ehe des Vaters
(Da auch eine zweite Ehe seines Vaters, bei dem er geblieben war, scheiterte, wurde er praktisch von seiner größeren Schwester großgezogen.)

ab 1917
lebte er in einer Privatpension in Halle

1923 - 1924
Mitglied des Nationalsozialistischen Bundes Oberfranken (Frontbann) und der Deutsch-Völkischen Freiheitspartei

00.09.1925
Abitur am Stadtgymnasium Halle

1925 - 00.06.1931
Medizinstudium in Leipzig, Innsbruck (zwei Semester) und Halle (fünf Semester)

01.02.1930
Eintritt in die NSDAP (Mitglieds Nu. 190 002)

1931
Eintritt in die SA u. den NS-Ärztebund

01.07.1931 - 30.06.1932
Medizinalpraktikant auf der Inneren Abteilung des St. Elisabeth-Krankenhauses Halle.

01.07.1932
Approbation

01.07.1933 - 31.12.1933
Assistenzarzt an der Chirurgischen Universitätsklinik Halle
(seine 20 Seiten umfassende Dissertation, behandelte die „Frage der Jodresorption und der therapeutischen Wirkung sog. Jodbäder“.)

18.07.1933
Promotion zum Doktor der Medizin an der Martin-Luther-Universität mit Gesamtprädikat „gut"

11.11.1933
Hochzeit (1. Ehe) mit Meye Frieda Klara (zwei Söhne)

ab 01.01.1934
Stadtarzt im Gesundheitsamt Halle

ab 1934
Kreis- und stellvertretender Gauobmann des NS-Ärztebundes, Vorsitzender des Gaudisziplinargerichts

1935
Kreisamtsleiter des Amtes für Volksgesundheit der NSDAP

01.05.1936
Ernennung zum stellvertretenden Amtsarzt

1939
Mitglied des Erbgesundheitsgerichts Halle.

Sommer 1939
Einberufung als Unterarzt zur Luftwaffe

01.12.1939
Verpflichtung für die T 4
(Die Bezeichnung T4 für die Organisation der “
Euthanasieverbrechen” oder auch Aktion T4 für
den gesamten Ablauf der Tötungen bis Sommer 1941 ist keine nationalsozialistische Tarnbezeichnung, sondern Sprachgebrauch der Nachkriegszeit.)

Januar 1940
Teilnahme an einer Probevergasung im
alten Zuchthaus von Brandenburg. Ernennung zum Direktor der Tötungsanstalt Grafeneck

April 1940
Schumann verlässt Grafeneck und besucht bei Prof. Werner Heyde in Würzburg einen Schnellkurs in Psychiatrie

Juni 1940
Ernennung zum Direktor der neu eröffneten Tötungsanstalt
Sonnenstein/Pirna
(Als „Euthanasie-Helferinnen" standen ihm in Pirna/Sachsen vier Frauen, die allesamt aus Gladbeck stammten, zur Seite. Josefa Pütz war eine von ihnen und wurde später seine Ehefrau.)

01.04.1941
Beförderung zum Städtischen Obermedizinalrat

ab 00.04.1941
Mitglied der "Ärztekommission" 14f13, die Selektionen in den KZs Auschwitz, Buchenwald, Dachau, Flossenbürg, Groß-Rosen, Mauthausen, Neuengamme und Niederhangen durchzuführen hatten

16.06.1941
Beförderung zum Städtischen Obermedizinalrat.

Selektion von Häftlingen im KZ
Buchenwald. Häftlinge, die später in Sonnenstein vergast werden

28.07.1941
am
28. Juli 1941 zum ersten Mal in Auschwitz. Hier selektierte er 575 Häftlinge, die in die NS-Tötungsanstalt Sonnenstein zur Vergasung gebracht wurden.

Januar/Februar 1942
Einsatz in Russland „zur Bergung von Verwundeten in Eis und Schnee" (vermutlich Liquidierung hirnverletzter deutscher Soldaten)

02.11.1942
Block 30 im Frauen Lager von Birkenau (Sektor BIA)
Beginn von Menschenversuchen im KZ Auschwitz (Sterilisation durch Röntgenstrahlen)
Am 2. November 1942 nahm Schumann seine Tätigkeit in Block 30 des Frauenkrankenbaues von Auschwitz-Birkenau auf. Nach Sterilisierung von etwa 200 jüdischen Männern wandte er sich nach Verlegung der Versuchsstation in den Block 10 des Stammlagers im Februar 1943 auch einer Bestrahlung weiblicher Versuchspersonen zu.
Seine Experimente führte er brutal und rücksichtslos durch. Er arbeitete in Block 30 in einem großen Raum mit zwei Röntgenapparaten und einer kleinen Zelle für ihn selbst, die selbstverständlich mit Bleiplatten gegen die Strahlung isoliert war.
Die Versuchsobjekte - relativ gesunde junge Männer und Frauen von circa 17 bis 25 Jahren, die am Vortag in den Lagern ausgewählt worden waren - wurden in einem Warteraum aufgereiht und eines nach dem anderen hereingebracht, wobei sie häufig überhaupt keine Ahnung hatten, was mit ihnen geschehen sollte. Die Frauen wurden am Unterleib und am Rücken zwischen zwei Platten gepreßt, die Männer mußten Penis und Hodensack auf eine Platte legen. Schumann selbst stellte die Apparate an, die ein lautes Summgeräusch von sich gaben.
Viele Frauen, berichtete die Häftlingsärztin Dr. Marie L., trugen "erhebliche Verbrennungen" davon, die sich häufig entzündeten und nur langsam heilten. Andere zeigten rasch Symptome einer Bauchfellentzündung mit starken Schmerzen, Fieber und Erbrechen. Nicht lange nach Empfang der Strahlendosis wurden den Frauen die Eierstöcke entfernt, in der Regel mit zwei Operationen. Die Eierstöcke wurden an Laboratorien verschickt, die feststellen sollten, ob die Röntgenstrahlen das Gewebe zerstört hätten.

Schumanns Experimente mit Männern verliefen ähnlich.
Zuerst gab es das Gerücht, daß "Juden mit Röntgenstrahlen sterilisiert wurden", und zwar von einem "Stabsarzt der Luftwaffe". Dann besuchte Schumann eine Männerstation und ordnete die Vorbereitung von 40 Häftlingen an, für die eine Kartei mit Daten aus medizinischen Beobachtungen anzulegen war. Dann kamen die Opfer mit Anzeichen von Verbrennungen am Hodensack zurück; später berichteten sie, daß man ihr Sperma gesammelt hatte (durch brutale Bearbeitung der Prostata mit einem rektal eingeführten Stück Holz).
Bei der Operation wurden ein oder beide Hoden entfernt, manchmal gab es eine zweite Operation zur Entfernung des noch vorhandenen Hodens (durchgeführt mit "bemerkenswerter Brutalität" und ohne ausreichende Betäubung: "Die Schreie der Patienten waren schrecklich anzuhören"). Es kam zu "katastrophalen" Operationsfolgen: Blutungen und Sepsen, so daß "viele schnell starben, moralisch und physisch geschwächt"; andere wurden zur Arbeit geschickt, "was ihnen dann den Rest gab".

15.04.1943
Polizeiliche Abmeldung Schumanns von Halle nach Auschwitz zum „
Haus der Waffen-SS"

29.04.1944
Information Himmlers über die Ergebnisse von Schumanns Versuchen. Schumann verlässt Auschwitz im Frühjahr 1944

04.08.1944
Scheidung von seiner Ehefrau Klara

11.09.1944
Nach Scheidung von seiner ersten Frau heiratete Schumann am 11. September 1944 die Büroangestellte Josefa Pütz in Dülmen, die er in der NS-Tötungsanstalt Sonnenstein kennengelernt hatte. Aus dieser Ehe gingen drei Kinder hervor

Herbst 1944
Schumann erscheint in der Anstalt Pfafferode (bei Mühlhausen/Thür.), um sich mit dem Anstaltsleiter Dr. Steinmeyer wegen der Liquidierung kranker Ostarbeiter abzusprechen

04.11.1944
aus einem Schreiben Steinmeyers an Mennecke vom 04.11.1944, geht hervor, daß Schumann Mitteldeutschland bereiste, um die Einrichtung von Sonderabteilungen für tuberkulosekranke Zwangsarbeiter zu erreichen. Der entsprechende Erlaß vom 06.07.1944 sah die Einrichtung solcher Abteilungen in Tiegenhof, Landberg/Warthe, Schleswig, Lüneburg, Schussenried, Kaufbeuren, Hadamar, Pfafferode und Mauer-Ohling vor; zur Ermordung tuberkulosekranker Zwangsarbeiter

Januar 1945
Truppenarzt bei der Wehrmacht

Januar 1945
amerikanische Kriegsgefangenschaft

20.08.1945
Entlassung aus dem Dienst der Stadt Halle

01.10.1945
Umzug zu seiner Frau nach
Gladbeck
(Mit seiner Frau lebte er im Haus seiner Schwiegereltern auf der Moltkestraße 58, die heutige Uhlandstraße 58.)

27.02.1946
Erörterung der Menschenversuche Schumanns im Nürnberger Ärzteprozess

1946 - 1951
Tätigkeit in Gladbeck als Sportarzt, Praxisvertretung und Knappschaftsarzt.

1949
Mit einem Flüchtlingskredit eröffnet er 1949 eine eigene Praxis und fiel erst 1951 den Behörden als gesuchter NS-Verbrecher auf
(Die erste eigene Praxis unterhielt er auf der Friedrichstraße 70 und seit Juli 1950 betrieb er sie in Räumen neben dem Solbad im Eingangsbereich der ehemaligen Zeche Zweckel. Darüber hinaus war der Arzt, dem zwischen 25.000 und 30.000 Todesopfer zur Last gelegt wurden, ab 1946 auch im Auftrag des Gesundheitsamtes der Stadt Gladbeck unterwegs und hatte Reihenuntersuchungen und Impfungen vorgenommen.)

26.02.1951
Flucht aus Gladbeck nach polizeilichen Ermittlungen
1951 beging der offiziell vermißte Auschwitz-Doktor einen Fehler, er wurde leichtsinnig. Schumann wollte eine Jagd pachten. Dazu benötigte er ein polizeiliches Führungszeugnis. Zuständig war sein Geburtsort, Halle an der Saale, wo er auch studiert und 1933 promoviert hatte. Doch aus Halle kam keine Leumundsbescheinigung, sondern ein Haftbefehl. Schumann muß davon Wind bekommen haben. Einen Tag vor seiner Verhaftung verschwand er, fuhr an die Nordsee und schlag sich als Kohlentrimmer nach Afrika durch.

1955
in Ägypten und Sudan

ab 1959
in Ghana

16.04.1959
Giselher Wirsing, Chefredakteur von "Christ und Welt", veröffentlicht einen Artikel über einen "zweiten Albert Schweitzer" in Afrika; Artikel führt zur Enttarnung von Schumann, der unter seinem richtigen Namen in Afrika lebte

16.11.1966
Auslieferung Schumanns in die Bundesrepublik
(In der Lufthansa-Maschine, die Schumann am 16. November 1966 in Begleitung von zwei Kriminalbeamten nach Frankfurt transportierte, bestritt der KZ-Arzt im Gespräch mit einem Reporter, Freund und Schützling von Kwame Nkrumah gewesen zu sein. Vielmehr habe der Ghana-Herrscher den Fall als "Machtprobe" mit der Bundesrepublik betrachtet, Als Nkrumah abgesetzt wurde, "da wußte ich sofort: Jetzt kaufen sie dich mit der Entwicklungshilfe. Ghana kriegte ja auch sofort vierzig Millionen".)
Daß es nun doch so weit gekommen ist, hat der ehemalige Arzt von Auschwitz einem Ereignis zuzuschreiben, das für ihn selber eine Überraschung war: dem Sturz des ghanaischen Präsidenten Kwame Nkrumah. Alle vorangegangenen Auslieferungsbegehren des Bonner Auswärtigen Amtes waren bei dem schwarzen Diktator auf taube Ohren gestoßen. Zwischen Ghana und der Bundesrepublik besteht kein Auslieferungsvertrag. Obendrein hielt Nkrumah seine schützende Hand über den „weißen Doktor“, der eine Zeitlang auch sein Leibarzt gewesen sein soll und der die Freundschaft einiger Kabinettsmitglieder genoß. Nach ihrer Ansicht waren Schumanns Taten im Dritten Reich allenfalls „politische“ Delikte. Politische Täter aber werden nicht ausgeliefert.

Zudem schätzte man den Arzt aus Deutschland, der 1960 plötzlich in Ghana aufgetaucht war und dem Gesundheitsministerium seine hilfreichen Dienste angeboten hatte. Mediziner waren damals eine Seltenheit in dem unabhängig gewordenen Lande Nkrumahs. Die Behörden richteten ihm alsbald im Busch, in Kete Krachi am Volta-Stausee, ein Krankenhaus ein. Schumann avancierte zum Bezirksarzt. Die Eingeborenen waren des Lobes voll über ihn.
Dann kam der Militärputsch in Accra. Ghanas neue Machthaber brachten Schumann, der kurz zuvor noch die ghanaische Staatsbürgerschaft erworben hatte, hinter Gitter.

17.11.1966
Am 17. November 1966 wurde er in Butzbach in Untersuchungshaft genommen.

00.09.1970
Im September 1970 begann vor dem Landgericht Frankfurt der Prozess

00.04.1971
für verhandlungsunfähig erklärt
(weil zahlreiche seiner Kollegen dem Angeklagten in zweifelhaften Gutachten bescheinigt hatten, dass er wegen seines hohen Blutdrucks verhandlungsunfähig sei.)

† 05.05.1983 in Frankfurt am Main
Er wurde auf dem Bornheimer Friedhof beerdigt
Obwohl ihm sein akademischer Grad bereits 1961 aberkannt worden war, steht auf seinem Grab: Dr. med. Horst Schumann


Anmerkungen
Weitere Selektionen führte er in den KZs Buchenwald, Dachau, Flossenbürg, Groß-Rosen, Mauthausen, Neuengamme und Niederhagen durch.

Nach Einstellung der Aktion T4 im August 1941 wurde Schumann von Dezember 1941 bis April 1942 der Organisation Todt zugewiesen und an die Ostfront kommandiert, wo er beim Aufbau eines Notlazarettes in Minsk eingesetzt wurde. Im Frühjahr 1942 kehrte er wieder nach Pirna zurück, ohne dass er hier nach teilweiser Entlassung des Personals noch eine konkrete Tätigkeit auszuüben hatte.

Am 2. November 1942 nahm Schumann seine Tätigkeit in Block 30 des Frauenkrankenbaues von Auschwitz-Birkenau auf. Nach Sterilisierung von etwa 200 jüdischen Männern wandte er sich nach Verlegung der Versuchsstation in den Block 10 des Stammlagers im Februar 1943 auch einer Bestrahlung weiblicher Versuchspersonen zu.
Seine Experimente führte er brutal und rücksichtslos durch. Er arbeitete in Block 30 in einem großen Raum mit zwei Röntgenapparaten und einer kleinen Zelle für ihn selbst, die selbstverständlich mit Bleiplatten gegen die Strahlung isoliert war.
Die Versuchsobjekte - relativ gesunde junge Männer und Frauen von circa 17 bis 25 Jahren, die am Vortag in den Lagern ausgewählt worden waren - wurden in einem Warteraum aufgereiht und eines nach dem anderen hereingebracht, wobei sie häufig überhaupt keine Ahnung hatten, was mit ihnen geschehen sollte. Die Frauen wurden am Unterleib und am Rücken zwischen zwei Platten gepreßt, die Männer mußten Penis und Hodensack auf eine Platte legen. Schumann selbst stellte die Apparate an, die ein lautes Summgeräusch von sich gaben.
Viele Frauen, berichtete die Häftlingsärztin Dr. Marie L., trugen "erhebliche Verbrennungen" davon, die sich häufig entzündeten und nur langsam heilten. Andere zeigten rasch Symptome einer Bauchfellentzündung mit starken Schmerzen, Fieber und Erbrechen. Nicht lange nach Empfang der Strahlendosis wurden den Frauen die Eierstöcke entfernt, in der Regel mit zwei Operationen. Die Eierstöcke wurden an Laboratorien verschickt, die feststellen sollten, ob die Röntgenstrahlen das Gewebe zerstört hätten.
Schumanns Experimente mit Männern verliefen ähnlich.
Zuerst gab es das Gerücht, daß "Juden mit Röntgenstrahlen sterilisiert wurden", und zwar von einem "Stabsarzt der Luftwaffe". Dann besuchte Schumann eine Männerstation und ordnete die Vorbereitung von 40 Häftlingen an, für die eine Kartei mit Daten aus medizinischen Beobachtungen anzulegen war. Dann kamen die Opfer mit Anzeichen von Verbrennungen am Hodensack zurück; später berichteten sie, daß man ihr Sperma gesammelt hatte (durch brutale Bearbeitung der Prostata mit einem rektal eingeführten Stück Holz).
Bei der Operation wurden ein oder beide Hoden entfernt, manchmal gab es eine zweite Operation zur Entfernung des noch vorhandenen Hodens (durchgeführt mit "bemerkenswerter Brutalität" und ohne ausreichende Betäubung: "Die Schreie der Patienten waren schrecklich anzuhören"). Es kam zu "katastrophalen" Operationsfolgen: Blutungen und Sepsen, so daß "viele schnell starben, moralisch und physisch geschwächt"; andere wurden zur Arbeit geschickt, "was ihnen dann den Rest gab".

21.09.1970
DER SPIEGEL 39/1970
Unbekannter Mann


Akten
Landesarchiv Sachsen-Anhalt
C 136 I Halle Erbgesundheitsgericht Halle, 1934-1945 (Bestand)[Benutzungsort: Merseburg]
Bestandsinformationen:
Der im damaligen Staatsarchiv Magdeburg verzeichnete Bestand gelangte 1994 zuständigkeitshalber in das neu gegründete Landesarchiv Merseburg (jetzt Abteilung Merseburg des Landesarchivs Sachsen-Anhalt).
Bestandsinhalt: Generalakten und Register - Verfahrensakten.
Hinweis:
Der Bestand enthält Archivgut, das personenbezogenen Schutzfristen gemäß § 10 Abs. 3 Satz 2 ArchG LSA unterliegt und bis zu deren Ablauf nur im Wege einer Schutzfristenverkürzung gemäß § 10 Abs. 4 Satz 2 ArchG LSA oder eines Informationszuganges gemäß § 10 Abs. 4a ArchG LSA zugänglich ist.

Prozeßunfähig

Der ehemalige KZ-Arzt und „Gnadentod“-Spezialist Dr. Horst Schumann, der in Frankfurt in Freiheit lebt, kann nach ärztlichem Befund nicht mehr vor Gericht gestellt werden.

Die Anwohner der Draisbornstraße im dörflichen Frankfurter Stadtteil Seckbach nehmen kaum Notiz davon. daß die Witwe Emmy Müller in Nummer 5b seit vier Monaten einen männlichen Logiergast hat.
Der weißhaarige, etwas fällige Mittsechziger verläßt das ockerfarbene Reihenhaus in der Sackgasse nur selten -- zu einem Spaziergang am nahen Lohrberg oder, einmal die Woche. zu einem Besuch beim Polizeiposten von Seckbach. Meldung über das leibhaftige Erscheinen des Müller-Gastes ergeht jeweils an die Staatsanwaltschaft heim Oberlandesgericht Frankfurt.
Dort, im Justiz-Hochhaus an der Zeil, wartet im Zimmer 820 der Erste Staatsanwalt Johannes Warb, 45. und fragt sich, ob und wann er den Meldepflichtigen noch einmal auf die Anklagebank bringen kann: Dr. med. (inzwischen aberkannt) Horst Schumann, 66, nächst dem in Südamerika untergetauchten KZ-Arzt Josef Mengele der bekannteste Überlebende unter Hitlers Euthanasie-Spezialisten. Schumann, der bis zu seiner Entdeckung 1951 unter richtigem Namen im Ruhrgebiet praktiziert hatte, floh nach Ghana und wurde 1966 ausgeliefert.
Bis zum April letzten Jahres hatte ein Frankfurter Schwurgericht sieben Monate lang gegen den ärztlichen Vollstrecker programmierten Mordes verhandelt wegen Selektion und Tötung ("Gnadentod") von fast 15 000 Geisteskranken in den "Liquidationsanstalten" (Anklageschrift) Grafeneck/Württemberg und Sonnenstein/Sachsen. in den Jahren 1940 und 1941.
Außerdem mußte sich Schumann wegen der "Ausmusterung" (Anklageschrift) von 765 arbeitsunfähigen Häftlingen (Lagerjargon: "Muselmänner") der Lager Auschwitz und Buchenwald verantworten, die er in Sonnenstein "selbst tötete oder töten ließ".
Nachdem Schumanns Euthanasie-Kollegen Hanns Eisele, Werner Heyde und Carl Clauberg gestorben waren, bevor ihnen der Prozeß gemacht werden konnte, scheint die Massentötung Geisteskranker im Hitler-Reich auch im Falle des letzten noch greifbaren Haupttäters für die bundesdeutsche Justiz ein Kapitel unbewältigter Vergangenheit zu bleiben. Dabei wogen in keinem der früheren Euthanasie-Verfahren gegen weniger belastete Ärzte die Beweise so schwer. Kaum zuvor waren schuldhafte Verstrickungen und williger Einsatz von Ärzten und Beamten, Handlangern und Mitläufern so deutlich bloßgelegt worden.
Aber schon nach sieben Monaten wurde der Prozeß gegen Schumann abgebrochen; der Angeklagte war nicht mehr verhandlungsfähig. Ein Hauptverfahren wegen der weiteren Anklage
tödliche Sterilisationsversuche Schumanns an mindestens 180 männlichen und weiblichen Auschwitz-Häftlingen (1942 bis 1944) -- wurde gar nicht mehr eröffnet. Der Frankfurter Medizin-Professor Hans-Karl Breddin attestierte am 7. Juli 1971 dem Untersuchungshäftling Horst Schumann "fixierte Hypertonie" (konstanten Bluthochdruck) mit systolischen Druck-Werten von mindestens 190 und diastolischen von höchstens 130. Zudem diagnostizierte Breddin Arteriosklerose und Altersemphysem, Nachwirkungen eines Magengeschwürs sowie Arthrose der Hüft- und Kniegelenke.
Freilich rechtfertigten allein Blutdruckbeschwerden wie Schwindel und
* Am 23. September 1970 vor dem Frankfurter Schwurgericht.
Kopfschmerzen, mögliche Herz- oder Gehirnschlag-Gefahr die vorläufige Einstellung des Verfahrens gegen Schumann. der voll erinnerungsfähig und auch geständig war (SPIEGEL 17/1971). Seitdem allerdings fechten Warb und sein Ankläger-Kollege Siegfried Schmidt um Neubeginn des Mordprozesses -- bisher vergeblich.
Nachdem Schumann -- seit 1966 in U-Haft -- im Sommer 1971 in das Zentralkrankenhaus der hessischen Vollzugsanstalt Kassel-Wehlheiden verlegt worden war, maß Vertragsarzt Dr. Justus Heß, Internist in Kassel. bei Schumann mit dem Manschetten -Manometer ebenfalls Blutdruckwerte von 180 bis 250 und 130 bis 100. Normalbefund für einen Mann in den Sechzigern: 150 und 100.
Obschon Heß bei Schumann "psychisch normales Verhalten" feststellte, schloß er aus, "daß Dr. Schumann für einen länger dauernden Prozeß wiederhergestellt werden kann". Die beiden Staatsanwälte sowie die Nebenkläger-Anwälte Henry Ormond (Frankfurt) und Friedrich Karl Kaul (Ost-Berlin) verlangten ein weiteres Gutachten.
Aber auch Oberregierungsmedizinalrat Dr. Heinz Degenhardt vom Kasseler Häftlings-Zentralkrankenhaus hielt es -- mit Gutachten vom 6. April 1972 -- für ganz "unwahrscheinlich", daß Schumann jemals wöchentlich zweimal einer Verhandlung würde folgen können.
Inzwischen waren allerdings bei Warb und Schmidt aufgrund interner Hinweise Zweifel daran aufgetaucht, ob Schumanns konstanter Bluthochdruck tatsächlich objektiv organisch bedingt war. Am 14. April reisten sie unangemeldet nach Kassel und stießen prompt "auf den ärztlichen Ratschlägen und der Behandlung widersprechende Manipulationen" (Warb).
In einer Eil-Eingabe an den 3. Strafsenat des Oberlandesgerichtes (OLG) Frankfurt meldeten sie am 17. April "den erheblichen Verdacht gezielter Manipulationen durch den Untersuchungsgefangenen Schumann". Nach den Aussagen von Zellengenossen hatte der kundige Mediziner Schumann
* "unbeschadet seines Gesundheitszustandes Kaffee und Tabak in erheblichem Maße zu sich genommen",
* "Medikamente, statt sie einzunehmen, ins Klosett geschüttet",
* "durch körperliche Anstrengungen und psychische Selbstbeeinflussung die Blutdruckwerte zu verfälschen versucht", außerdem widerspräche
* "der unkontrollierte Genuß von Wurstwaren der ärztlicherseits verordneten Leberdiätkost".
Da der Blutdruck unbestritten gerade "bei seelischer Aufregung, nach Kaffee-Genuß" (Volks-Brockhaus) rasch und auch für längere Dauer erhöht werden kann, wunderten sich Warb und Schmidt ungemein darüber, daß in Kassel "ein Verbot von Nikotin und Kaffee bislang nicht ausgesprochen war", daß Schumann sogar "während der Intensivbehandlung im Besitze größerer Mengen von Kaffee und Tabak war" und daß er "von einer gewissen Emmy Müller" mit richterlicher Genehmigung "wiederholt Lebensmittel, darunter Hartwurst" Kaffee und Zigaretten, empfangen hat".
Die Frankfurter Witwe hatte den KZ-Arzt, von dem sich seine Familie schon früher getrennt hatte, als Dauer-Zuhörerin während der Schwurgerichts-Sitzungen kennengelernt "und seitdem regelmäßig besucht" (Warb).
Der OLG-Senat folgte dem Verlangen der Ankläger, bei Schumann die Einnahme der Medikamente überwachen und den Genuß von Kaffee und Tabak verbieten zu lassen. Die Gutachter Heß und Degenhardt räumten allerdings ein, daß solche Überwachung "eine Personalfrage" sei.
Nach zweimonatiger Beobachtung Schumanns -- mit "zu wenig und zu unregelmäßigen" Blutdruckmessungen" meint Warb -- lieferte Dr. Justus Heß am 26. Juni 1972 ein neues Gutachten ab. Zwar waren Schumann in Kassel weiterhin blutdrucksenkende und herzstärkende Medikamente wie Catapresan 300, Presinol, Intensain-Lanicor und Nitrolingual verabreicht worden. Aber die oberen Werte blieben über 200, die unteren lagen nicht höher als 130. Heß erkannte nochmals auf "malignen (bösartigen) Bluthochdruck", Verhandlungsfähigkeit sei "nicht mehr zu erwarten".
Daraufhin setzte der 3. OLG-Senat den Haftbefehl gegen Schumann -- vom Landgericht Limburg aus dem Jahre 1961 -- außer Vollzug. Am 29. Juli 1972 wurde Schumann freigelassen. "in aller Stille", wie sich Simon Wiesenthal, Präsident des "Bundes verfolgter Juden" und Eichmann-Jäger, empörte (SPIEGEL 38/1972). Witwe Müller nahm ihn auf, Schumann handelt und wandelt ungeschoren.
Warlos Antrag auf Berufung eines Obergutachters" der nicht aus Kassel und dem Vollzugs-Krankenhaus nicht verbunden sein sollte, war abgelehnt worden. Der OLG-Senat kam zu der "Überzeugung, daß auch ein weiterer Gutachter, dem hinsichtlich der Diagnose keine zusätzlichen Erkenntnismittel zur Verfügung stünden, nicht zu dem Ergebnis kommen könnte, die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten · könne in absehbarer Zeit wiederhergestellt werden".
Der allerletzte schriftliche Einwand Warlos, es lägen "zahlreiche Anhaltspunkte dafür vor, daß er (Schumann) versucht, auf Grund seines Gesundheitszustandes einer Bestrafung zu entgehen", wurde vom OLG-Senat am 16. August ebenfalls verworfen.
Regelmäßig wie Schumanns Polizeibesuch ist seitdem auch eine ärztliche Visite im Hause Draisbornstraße 5b wobei der Arzt sein Kommen frühzeitig ankündigt, um den Patienten anzutreffen. Warb: "Da haben wir nichts mehr zu erwarten, denn wenn Schumann seinem Blutdruck tatsächlich nachhilft, hätte er genug Zeit dazu."

Gladbeck Uhlandstraße 58

Gladbeck Friedrichstraße 70

Zeche Zweckel