Az. S 9 RJ 1044/03

SG Hamburg Urteil vom 9. Februar 2006 Az. S 9 RJ 1044/03

1. Zum Beginn der Ghettoisierung in Ostoberschlesien 2. Zur Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss und zur Entgeltlichkeit der Beschäftigung im Ghetto Wadowice 3. Zur Entgeltlichkeit einer Beschäftigung im Ghetto bei bestehendem Lohnanspruch

Tenor
1. Der Bescheid der Beklagten vom 11.04.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 07.10.2003 wird aufgehoben.

2. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Regelaltersrente nach dem ZRBG unter Berücksichtigung einer Beitragszeit von Mai 1941 bis August 1943 im Ghetto Wadowice sowie verfolgungsbedingten Ersatzzeiten von Januar 1940 bis Februar 1945 und September 1949 bis 31.12.1949 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

3. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers dem Grunde nach.

Tatbestand
Die Beteiligten streiten über eine Rente des Klägers aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung unter Berücksichtigung der Vorschriften des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto und zur Änderung anderer Gesetze (ZRBG).

Der Kläger ist am ....1914 in Z. bei Wadowice in Polen (Oberschlesien) geboren, ist im September 1949 nach USA ausgewandert und ist amerikanischer Staatsangehöriger. Er ist Jude und hat als Verfolgter Entschädigung in Höhe von DM 2.843, - für Zeiten der Freiheitsentziehung und für Zeiten des "Sterntragens" und illegalen Lebens von insgesamt 43 Monaten nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) unter dem Aktenzeichen vom Bayerischen Landesentschädigungsamt erhalten. Ein später gestellter Antrag auf Entschädigung für Gesundheitsschaden wurde wegen fehlender Mitwirkung mit Urteil des Landgerichts München I vom 11.6.1975 rechtskräftig abgelehnt. Im Jahr 1996 hat der Kläger Leistungen der Claims Conference in Höhe von DM 6.450, - wegen der Verfolgung erhalten.

Der Kläger stellte am 18.09.2002 einen Rentenantrag bei der Beklagten und gab anschließend im förmlichen Antrag an, er habe die Volksschule bis zum Jahr 1928 besucht und anschließend eine 3- jährige Glaserlehre gemacht mit Abschlussprüfung 1931. Ab September 1939 bis Oktober 1942 sei er im Ghetto Wadowice gewesen und habe dort in einer Glaserei als Glaser in Vollzeitbeschäftigung gearbeitet. Die Spalte zum Arbeitsverdienst ist mit einem Fragezeichen ausgefüllt.

Die Beklagte forderte die Entschädigungsakten des Klägers und Unterlagen der Claims Conference an und wertete sie aus.

Gegenüber der Claims Conference hatte der Kläger angegeben, er sei ab Mai 1941 bis August 1943 im Ghetto Wadowice gewesen. Im Herbst 1943 sei ihm die Flucht nach Gorzen gelungen, wo er sich bis 1944 versteckt gehalten habe. Bereits vor der Errichtung des Ghettos habe er Zwangsarbeit für die Deutschen leisten müssen. Das Ghetto sei auf dem früheren Marktplatz in Wadowice errichtet worden und nicht umzäunt gewesen. Es sei jedoch streng verboten gewesen, sich außerhalb des Ghettobereichs aufzuhalten. Er sei in Konvois zu Regulierungsarbeiten in Andrychow an den Flüssen Wierprzowka und Skava geführt worden. Während der Zeit im Ghetto habe er auch in einer Weberei gearbeitet. Die Lebensbedingungen seien sehr armselig gewesen. Man habe keine Bezahlung für die Arbeit erhalten und habe schwer unter der Hungersnot gelitten. Der schlimmste Teil sei jedoch erst mit den "Aktionen" vor der Liquidierung des Ghettos gekommen, bei denen sein älterer Bruder getötet worden sei, während er habe flüchten können. Beide Eltern sowie 3 weitere Geschwister seien in Auschwitz umgekommen.

Die Beklagte forderte weitere Angaben des Klägers auf einem Fragebogen an. Auf einem von ihm am 12.01.2003 unterschriebenen Fragebogen ist in Maschinenschrift angegeben, er habe in für seine Tätigkeit Brot und Suppe nach der Arbeit durch den Judenrat erhalten. Die Frage, ob Entgelt gezahlt worden sei, ist mit " ja " ausgefüllt.

Mit Bescheid vom 11.04.2003, abgesandt am 25.04.2003 lehnte die Beklagte den Rentenantrag unter Hinweis darauf ab, dass die Zeit vom 01.05.1941 bis 10.08.1943 nicht als Zeit einer entgeltlichen Beschäftigung in einem Ghetto anerkannt werden könne, weil weder Entgelt noch Sachbezüge in wesentlichem Umfang gewährt worden seien.

Den Widerspruch vom 12.05.2003, eingegangen am 15.05.2003, begründete der Kläger damit, dass es nicht ausreiche, von der Existenz eines Ghettos sowohl zeitlich als auch räumlich nur dann auszugehen, wenn es den Registern von Frau Dr. G. S. für diesen Zeitraum erwähnt sei. Tatsächlich beschränke sich die Definition eines Ghettos nicht nur auf einen abgegrenzten Stadtteil. Ein Ghetto könne auch bestehen, wenn es nicht durch Zäune oder Mauern abgeschlossen sei. Entscheidend sei, dass es nicht mehr verlassen werden könne. Unter Angabe einer großen Zahl von Anordnungen und Erlassen gegen die jüdische Bevölkerung verwies er darauf, dass die Kennzeichnungspflicht bereits im November 1939 angeordnet und die Beschränkung der Umzugsmöglichkeiten der Juden auf die Grenzen ihres Wohnsitzes sowie die Ausgangssperre in Generalgouvernement bereits zu Beginn des Jahres 1940 angeordnet worden seien. Auch sei den Juden bereits ab Anfang 1940 verboten gewesen, ohne Sondergenehmigung die Eisenbahn zu benutzen. Es hätten überall Judenräte gewählt werden müssen. Insgesamt sei die Ghettoisierung ein Prozess von ca. drei Jahren bis zur endgültigen Schließung gewesen. Selbst in den geschlossenen Ghettos habe die deutsche Zivilverwaltung eine Vielzahl von Passierscheinen ausgeben und Zugänge im Ghetto offen halten müssen. Straßenbahnlinien hätten zum Beispiel in Warschau umgeleitet werden müssen. In Lodz habe eine neue Buslinie errichtet werden müssen, sie um das Ghetto herum geführt habe. Nur wenige Ghettos in den großen Städten seien mit Mauern abgeriegelt gewesen, so z. B. Warschau, Krakau, Radom und Neu- Sandez, während das Ghetto in Lublin überhaupt nie habe abgeschlossen werden können. Wenn auch nicht hermetisch abgeschlossen, sei es doch keinen Juden erlaubt gewesen, sich außerhalb der Begrenzung aufzuhalten.

Unter Bezugnahme auf die Verhältnisse im Generalgouvernement macht er geltend, jede Beschäftigung im Ghetto, erfülle die Voraussetzungen des ZRBG ab Dezember 1939 bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die jüdische Selbstverwaltung keinen Zugriff mehr auf den einzelnen Beschäftigten gehabt habe, nämlich dem Zeitpunkt der Überstellung in ein Zwangsarbeits- oder Konzentrationslager. Ohnehin könnten sich die betagten Antragsteller nur noch schwer an Einzelheiten zur Entlohnung erinnern. Jahrelanges Leben unter Todesangst, lasse Fragen nach der Höhe, Form, Währung einer Entlohnung völlig unbeachtlich. Vor Ort bei der Arbeit sei oft eine Entlohnung nur durch Kost und Logis erfolgt. Arbeitslöhne seien an die Judenräte gezahlt worden, die dann eine Gesamtverteilung auch an nicht arbeitsfähige Familienmitglieder und übrige Ghettoinsassen vorgenommen hätten. Durch sie sei die Entgeltlichkeit der Beschäftigung im Ghetto gesichert gewesen. Auch habe man sich von der bestehenden Arbeitspflicht freikaufen können für ca. 60- 100 Zloty pro Monat (Angabe für Warschau).

Mit Widerspruchsbescheid vom 07.10.2003 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Aus den Angaben im Entschädigungsverfahren ergebe sich, dass der Kläger die Beschäftigung nicht aus freiem Willensentschluss aufgenommen habe. Es liege Zwangsarbeit vor.

Mit der Klage vom 05.11.2003 verfolgt der Kläger sein Interesse weiter. Er macht geltend, die restriktive Auslegung der Begriffe "Ghetto" und "Zwangarbeit" sei unkorrekt. Es sei rechtswidrig, aus seinen eidesstattlichen Erklärungen im Entschädigungsverfahren, die zu völlig anderen Fragen gemacht worden seien, auf Zwangsarbeit zu schließen.

Zwar seien die Gesamtlebensumstände als "zwanghaft" empfunden worden, die Arbeit sei jedoch freiwillig erfolgt. Das Merkmal der Freiwilligkeit sei immer dann zu bejahen, wenn dem Betroffenen im Fall der Nichtausübung einer Tätigkeit ein schlimmeres Übel gedroht hätte.

In einer notariell beglaubigten eidesstattlichen Erklärung vom 20.07.2004 beschreibt der Kläger sein Verfolgungsschicksal wie folgt: Er sei am ....1914 in Z., Polen geboren. Vor der Verfolgung habe er gelernt und sei Glaser von Beruf gewesen. Dank dieser Fertigkeit sei es ihm gelungen, im Ghetto zu überleben. Im Mai 1941 sei ein Ghetto in Wadowice errichtet worden, in das alle Juden hätten einziehen müssen. Man habe unter sehr beengten Verhältnissen gelebt und sei vielfältigen Restriktionen gegenüber der jüdischen Bevölkerung ausgesetzt gewesen. Als er gehört habe, dass der Judenrat nach professionellen Glasern suche, habe er sich sofort direkt dort vorgestellt. Er habe die Arbeit bekommen und eine Arbeitserlaubnis vom Judenrat erhalten, die ihn vor der Deportation geschützt habe. Er habe 7 Tage die Woche als Glaser ungefähr 10 Stunden täglich gearbeitet. Als Gegenleistung habe er wie alle Lebensmittelkarten und eine Mahlzeit bei oder nach der Arbeit erhalten. Er sei angewiesen/ beauftragt worden, Fenster und Türen von Wohnungen, Büros und anderen offiziellen städtischen von den Deutschen besetzten Gebäuden zu reparieren. Die Arbeit sei in diesen schweren Zeiten seine Sicherheit gewesen und habe es ihm ermöglicht, sich mit dem Notwendigen zu versorgen. Bei Liquidierung des Ghettos sei es ihm mit Hilfe eines polnischen Freundes gelungen, sich zu verstecken bis zur Befreiung 1945.

Auf Nachfrage des Gerichts wegen möglicher Widersprüche zur Entgeltlichkeit und zu Angaben in der Entschädigungsakte vom 13.03.1954 und bei der Claims Conference (richterlicher Hinweis vom 15.06.2005) hat der Kläger eine weitere notariell beglaubigte "Eigene Erklärung" vom 18.08.2005 abgegeben, wonach er beim Arbeitsamt Wadowice als professioneller Glaser eingetragen gewesen sei. Sein Beruf sei " kriegswichtig " gewesen und er sei auch hauptsächlich für Glaserarbeiten eingesetzt worden. Falls aber keine Arbeit vorhanden gewesen sei, sei er vom Arbeitsamt an den Fluss Skava geschickt worden und habe dort bei Bewässerungsarbeiten aushelfen müssen und auch im Straßenbau. Während der Ghettozeit habe eine dauernde Bombardierung in der Stadtgegend stattgefunden. Deswegen sei regelmäßig genügend Arbeit als Glaser vorhanden gewesen. Für seine Arbeit im Ghetto sei er regelmäßig mit Lebensmittelmarken bezahlt worden. Er habe diese Marken für den Kauf von Lebensmitteln benutzt und, da er Essen bei der Arbeit erhalten habe, einige Marken zum Kauf von anderen notwendigen Dingen benutzt. Er erinnere sich noch daran, wie die Rationsmarken ausgesehen hätten, die er sich beim Judenrat abgeholt habe. Ebenfalls erinnere er sich daran, dass er im Ghetto bis zu dessen Auflösung geblieben sei.

Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt sinngemäß nach Lage der Akten,
den Bescheid der Beklagten vom 11.04.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 07.10.2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Regelaltersrente nach dem ZRBG unter Berücksichtigung einer Beitragszeit von Mai 1941 bis August 1943 im Ghetto Wadowice sowie von verfolgungsbedingten Ersatzzeiten, mit denen die Wartezeit erfüllt wird, nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat sich auf den Inhalt der Akten und die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden bezogen. Sie hat zu der im Klageverfahren eingereichten eidesstattlichen Erklärung und der "Eigenen Erklärung" des Klägers ausgeführt, dass selbst dann, wenn glaubhaft gemacht sei, dass der Kläger für eine gewisse Zeit während des zwangsweisen Aufenthaltes im Getto Wadowice eine freiwillig aufgenommene Tätigkeit als Glaser verrichtet habe, davon auszugehen sei, dass er nur eine geringfügige Entlohnung in Form von Sachbezügen dafür erhalten habe. Nach der Rechtsprechung des BSG (insbesondere Urteil vom 7.10.2004, Aktenzeichen: B 13 RJ 59/03 R) reiche die Gewährung zusätzlicher Lebensmittel am Arbeitsplatz als Gegenleistung für geleistete Arbeit nicht zur Annahme der Entgeltlichkeit im Sinne des ZRBG aus. Im Rentenverfahren habe der Kläger angegeben, er habe " bread and soup after work" erhalten. Wenn er nunmehr vortrage, dass er auch Lebensmittelgutscheine erhalten habe, so sei dies im Hinblick auf die frühere Angabe nicht glaubhaft.

Das Gericht hat die Entschädigungsakten des Klägers zum Aktenzeichen 72 291/VII/ 14493 vom Bayerischen Landesentschädigungsamt in München beigezogen.

In diesen Akten findet sich unter anderem eine eidesstattliche Erklärung des Klägers vom 13.3.1954, wonach das Getto in Wadowice im Mai 1941 errichtet worden und die jüdische Bevölkerung von der Außenwelt abgeschlossen worden sei. Die Juden hätten den Judenstern tragen müssen und seien zur Zwangsarbeit befohlen worden. Er habe während dieser Ghettozeit Zwangsarbeit für die Deutschen verrichten müssen und zwar zum Teil in seinem Fach als Glaser, z. T. bei der Wasser-Regulierung des Flüsschens Skava und auch bei Straßenarbeiten verschiedener Art.

Im Antrag auf Entschädigung für Schaden an Körper oder Gesundheit vom 8.11.1965 hatte der Kläger ferner angegeben, er habe die schwersten Zwangsarbeiten leisten müssen, als er bei verschiedensten Arbeiten und der Wasserregulierung gearbeitet habe. Er habe in der größten Kälte und Nässe stehen müssen und sei sehr schwer krank geworden. Ferner finden sich Angaben des damaligen Zeugen G1 (eidesstattliche Erklärung vom 30.6.1954), der sowohl die gemeinsame Tätigkeit als Glaser als auch die Arbeit des Klägers bei der Flussregulierung bestätigt hat und der damaligen Zeugin A. (eidesstattliche Erklärung vom 30.6.1954), die seine Tätigkeit bei der Flussregulierung der Skava bestätigt.

Außerdem hat das Gericht im Rahmen der Amtsermittlung beim Staatsarchiv in Krakau angefragt, ob dort Unterlagen über die Tätigkeit des Klägers als Glaser während der Zeit des Gettos in Wadowice vorlägen. Mit Schreiben vom 11.4.2001 hat das Staatsarchiv in Krakau mitgeteilt, dass es die Anfrage an das staatliche Archiv in Katowice weitergeleitet habe. Das dortige Archiv hat mit Schreiben vom 9.5.2005 mitgeteilt dass sich keine Eintragungen über die Unterbringung und Beschäftigung des Klägers im Getto in Wadowice gefunden hätten.

Mit gerichtlicher Verfügung vom 6.12.2005 hat das Gericht den Beteiligten das vom Sozialgericht Hamburg im Verfahren S 35 RJ 737/00 ff. eingeholte "Gutachten des Professors für osteuropäische Geschichte an der Universität Hamburg Prof. Dr. G2 betreffend die historischen Verhältnisse in den deutsch besetzten Gebieten Osteuropas und die Lage der jüdischen Bewohner dieser Gebiete (Region Ostoberschlesien)", im folgenden zitiert als: "Professor G2- Gutachten" übersandt und mitgeteilt, dass dieses Gutachten auch im Verfahren des Klägers zugrunde gelegt werde.

Daneben nimmt das Gericht Bezug auf mehrere für das Sozialgericht Düsseldorf zum Aktenzeichen S 4 (3) J 105/93 und das Landessozialgericht Nordrhein- Westfalen (zu den Verfahren L 14 RJ 74/01 und L 3 RJ 69/99) eingeholte Gutachten des Herrn A1 B. betreffend die Verhältnisse in Ostoberschlesien und auf das Gutachten des Rechtsanwalts B1 F. vom 01.03.1994 "Zur Behandlung ehemaliger "Schutzangehöriger" bei Anwendung des Fremdrentengesetzes Artikel 15 RRG 92/ § 17 FRG" mit umfangreichem Anlagenmaterial.

Weiter hat das Gericht im Internet zugängliche Quellen über das Ghetto Wadowice, z.B. vom Karl- Ernst- Osthaus- Museum http://www.keom.de/denkmal/suche und die "ARC"- Ghettoliste http://www.deathcamps.org/occupation/ghettolist.htm herangezogen und ausgewertet. Ferner liegt vor eine Übersetzung aus der hebräischen Sprache des in Yad Vashem (Erinnerungsbehörde der Shoah (= Massenvernichtung der Juden unter der Naziherrschaft) und des Heldentums) aufbewahrten "Notizbuch der Gemeinden, Enzyklopädie der jüdischen Ansiedlungen, Polen, Bd. 3 Westgalizien und Schlesien, Blatt 49- 53 der Prozessakte.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 09.02.2006 hat der Vertreter der Beklagten ausgeführt, dass die Wartezeit mit verfolgungsbedingten Ersatzzeiten ab 01.01.1940 (Stern tragen) bis Februar 1945 (Befreiung des Klägers in seinem Versteck in Gorzen durch die Rote Armee) und von September 1949 (Auswanderung nach USA) bis 31.12.1949 erfüllt wäre, wenn hier Ghettobeitragszeiten nach dem ZRBG anzuerkennen wären.

Hinsichtlich des Inhalts der mündlichen Verhandlung im Übrigen wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozessakte der Kammer und der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen. Diese haben vorgelegen und sind zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden.

Gründe

Die Klage ist zulässig. Das Gericht konnte auch ohne Anwesenheit des Klägers oder seines Bevollmächtigten über die Sache entscheiden. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers ist mit Ladung vom 04.01.2006 rechtzeitig zur mündlichen Verhandlung am 09.02.2006 geladen und in der Ladung darauf hingewiesen worden, dass im Falle seiner Abwesenheit auch ohne ihn verhandelt werden könne. Er hat durch Rücksendung des Empfangsbekenntnisses per Telefax vom 31.01.2006 bestätigt, dass er die Ladung am 06.01.2006 erhalten habe.

Die Kammer ist nach dem Vortrag davon ausgegangen, dass das Begehren des Klägers dahin geht, ihm eine Regelaltersrente nach dem ZRBG unter Berücksichtigung einer Ghettobeitragszeit im Ghetto Wadowice von Mai 1941 bis August 1943 sowie unter Berücksichtigung dieser vorangehender und an sie anschließender verfolgungsbedingter Ersatzzeiten und Ersatzzeiten wegen verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts zu gewähren.

Daneben käme ebenfalls in Betracht, dass der Kläger Anspruch auf eine Rentenzahlung auch ohne Anwendung der Vorschriften des ZRBG haben könnte, nämlich nach §§ 14, 18 Abs. II des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) i.V.m. dem Fremdrentengesetz (FRG). Da jedoch keinerlei Vortrag zu den Voraussetzungen der §§ 14 und 18 WGSVG erfolgt ist, sondern ein Anspruch nach Inkrafttreten des ZRBG unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Zeiten des Klägers im Ghetto (Bl. 1 der Verwaltungsakte) geltend gemacht und auch im Widerspruchsverfahren (Blatt 4- 11 der Widerspruchsakte) wie im Klageverfahren (Blatt 4,5,7-8, 38 ff der Prozessakte) lediglich auf das ZRBG Bezug genommen wurde, geht die Kammer davon aus, dass lediglich Ansprüche nach dem ZRBG geltend gemacht sind.

Die Klage ist auch in dem Umfang begründet, den das Gericht dem Vorbringen des Bevollmächtigten im Wege sachdienlicher Auslegung als Antrag entnommen hat.

Zwar ist im Rentenantragsformular ein Zeitraum von September 1939 bis Oktober 1942 als Zeitraum des Aufenthalts des Klägers im Ghetto Wadowice angegeben. Hierbei muss es sich jedoch um ein Versehen gehandelt haben, denn in der gesamten Entschädigungsakte des Klägers ist durchgehend angegeben, dass er sich erst ab Mai 1941 im Ghetto Wadowice aufgehalten habe und dort bis Herbst 1943 geblieben sei, als es ihm gelungen sei zu fliehen und sich zu verstecken. Insbesondere bezieht sich die Kammer auf die eidesstattliche Erklärung des Klägers vom 13.03.1954, wonach das Ghetto in Wadowice "spätestens vom 1. Mai 1941 an " durch die Deutschen errichtet worden sei. Hierauf deuten auch die in der Entschädigungsakte vorliegenden Zeugenaussagen hin. Ebenso geht das Gericht davon aus, dass nur der Zeitraum bis August 1943 als Ghetto- Beitragszeit geltend gemacht wird. Im Rentenverfahren (Blatt 9 Rückseite der Verwaltungsakte) ist zwar ein ganz anderer Zeitraum lediglich bis Oktober 1942 angegeben, wobei diese Angaben offenbar nicht vom Kläger stammen. Nach den Angaben und dem Bescheid in der Entschädigungsakte wegen Freiheitsschadens kommt auch als Zeitraum die Zeit bis 1. Oktober 1943 in Betracht. Im Klageverfahren hat der Kläger jedoch eindeutig angegeben, er sei bis zur Liquidierung des Ghettos Wadowice dort gewesen und habe sich von da an versteckt (eidesstattliche Erklärung Blatt 19 der Prozessakte). Nach den heute vorliegenden historischen Erkenntnissen wurde das Ghetto in Wadowice im August 1943 liquidiert (vgl. http://www.keom.de/denkmal/suche, http://www.deathcamps.org/occupation/ghettolist.htm , The ARC Ghetto List). Die Anerkennung einer längeren Zeit - etwa entsprechend den Bescheiden nach dem BEG kommt deswegen nicht in Betracht.

Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Er hat einen Anspruch auf Zahlung einer Regelaltersrente nach den Vorschriften des ZRBG, denn er hat das 65. Lebensjahr vollendet und er erfüllt die Wartezeit nach § 35 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VI). Auf die Wartezeit sind eine Ghettobeitragszeit nach Artikel 1 § 2 ZRBG im Ghetto Wadowice von Mai 1941 bis August 1943 (I) sowie daran vorher und nachher angrenzende verfolgungsbedingte Ersatzzeiten (II) anzurechnen.


I.

Auf die allgemeine Wartezeit von 5 Jahren sind nach §§ 50 Abs. 1 Nr. 1, 51 Abs. 1 und Abs. 4 SGB VI Kalendermonate mit Beitrags- und Ersatzzeiten anzurechnen. Beitragszeiten sind nach § 55 Abs. 1, 247 Abs. 3 Satz 1 SGB VI Zeiten, für die nach Bundesrecht oder Reichsversicherungsrecht Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind oder nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten.

Der Kläger hat weder Pflicht- noch freiwillige Beiträge nach Bundesrecht oder Reichsversicherungsrecht gezahlt, mit denen die Wartezeit erfüllt werden könnte. Für ihn sind jedoch Ghetto- Beitragszeiten nach § 2 Abs. 1 ZRBG anzurechnen. Nach dieser Vorschrift gelten für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto Beiträge als gezahlt , wobei im einzelnen festgelegt ist, dass die Beiträge für die Berechnung der Rente aus diesen Zeiten als Beiträge nach den Reichsversicherungsgesetzen für eine Beschäftigung außerhalb des Bundesgebiets gelten, (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 ZRBG) dass jedoch für die Erbringung von Leistungen ins Ausland die Beiträge als Beiträge für eine Beschäftigung im Bundesgebiet gelten (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 ZRBG).

1. Die Zeit von Mai 1941 bis August 1943 ist eine Ghetto- Beitragszeit nach §§ 1 und 2 ZRBG, denn der Kläger hat sich als Verfolgter zwangsweise in einem Ghetto in einem vom Deutschen Reich besetzten Gebiet aufgehalten und dort eine entgeltliche Beschäftigung ausgeübt, die aus freiem Willenentschluss zustande gekommen ist.

Für die Feststellung der für einen Anspruch nach dem ZRBG maßgeblichen Tatsachen genügt es, wenn diese glaubhaft gemacht sind (§ 1 Abs. 2 ZRBG i.V.m. § 3 Abs. 1 WGSVG). Dies ist der Fall, wenn die Tatsache nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist. Überwiegende Wahrscheinlichkeit liegt nach der Rechtsprechung des BSG vor, wenn die gute Möglichkeit besteht, dass der behauptete Vorgang sich so zugetragen hat, wie der Antragsteller oder die Antragstellerin es geltend macht (BSG, B 9 V 33/97 R vom 3.2.1999).

a) Der Kläger ist als Verfolgter im Sinne des § 1 BEG anerkannt (s.oben). Er hat Leistungen nach dem BEG erhalten, nämlich Entschädigung wegen des Freiheitsschadens.

b) Er hat sich, wie oben dargelegt, nach allen Angaben in der Entschädigungsakte von Mai 1941 bis August 1943 zwangsweise in einem Ghetto in einem vom Deutschen Reich besetzten Gebiet aufgehalten, nämlich im Ghetto Wadowice in dem dem Deutschen Reich eingegliederten Gebiet "Ostoberschlesien", einem Teil Polens (zu den historischen Einzelheiten vgl. Gutachten Seite 2 ff)

Für den hier streitigen Zeitraum ab Mai 1941 bestand zur Überzeugung der Kammer in Wadowice bereits ein Ghetto im Sinne des ZRBG, in dem sich die jüdische Bevölkerung zwangsweise aufhalten musste.

Der Beginn der Errichtung von Ghettos in Ostoberschlesien ist umstritten. Nicht eindeutig ist bereits, welchen Begriff des Ghettos das ZRBG zu Grunde legt.

Die Gesetzesbegründung des ZRBG nimmt Bezug auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts betreffend das Ghetto in Lodz (vgl. z.B. BSG 5 RJ 66/95), das jedoch - auch im Vergleich zu den übrigen Ghettos im Generalgouvernement - hermetisch abgeriegelt war. Da dies nicht für alle anderen Ghettos, auch außerhalb Ostoberschlesiens, zutrifft, führt der Hinweis nicht weiter.

Auch aus der Systematik des ZRBG lässt sich letztlich kein sicherer Hinweis über die Vorstellungen des Gesetzgebers von den Voraussetzungen eines zwangsweisen Aufenthalt in einem Ghetto gewinnen. Eindeutig ist insofern lediglich die Abgrenzung des Gesetzes gegenüber Zwangsarbeit, wie sie in Zwangsarbeitslagern und Konzentrationslagern ausgeübt werden musste. Hieraus jedoch ohne weitere Hinweise zu schließen, dass jeder Aufenthalt in den bereits vor der Verfolgung bestehenden jüdischen Wohnbezirken (vgl. zur Entwicklung dieser Wohnbezirke und zunächst freiwillige, später zunehmend unfreiwillige Separierung der jüdischen Bevölkerung SG Düsseldorf S 39 RJ 28/01 mit weiterem Verweis auf das Gutachten des Sachverständigen B. vom 31.12.2002), die umgangssprachlich als "Ghettos" bezeichnet wurden (Professor Dr. G2- Gutachten, Seite 4) ohne genaue Betrachtung der einzelnen Maßnahmen der Deutschen zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit und Separierung der jüdischen Bevölkerung durch die Deutschen vom ZRBG erfasst werden sollte, hat die Kammer nicht für ausreichend erachtet.

Hinweise über den Beginn der Ghettoisierung in Ostoberschlesien finden sich in den von der Sozialgerichtsbarkeit eingeholten Gutachten.

Wie Professor Dr. G2 in dem vom Sozialgericht Hamburg eingeholten Gutachten betreffend die Region Ostoberschlesien (Seite 4) ausgeführt hat, war im Reichsgebiet die Errichtung von Ghettos zunächst nicht vorgesehen gewesen. Vielmehr war zunächst versucht worden, die Juden nach Osten zu vertreiben. Wie im Gutachten ausgeführt ist, kam es insoweit zu einem Umdenken, als im Winter 1939/1940 die Deportationen von Juden aus den eingegliederten Gebieten in Posen, Westpreußen und Wartheland in das Generalgouvernement gestoppt wurden. Nun wurde mit einer längeren Verweildauer der Juden in Oberschlesien gerechnet. Die meisten Juden aus den Bezirken Kattowitz pp. wurden im ersten Halbjahr 1940 hinter die Grenze des "Oststreifens" vertrieben. , (Professor G2- Gutachten Seite 4).

Im Gutachten heißt es weiter: " Während im Generalgouvernement (aber auch da nicht überall) viele Ghettos " geschlossene Ghettos " waren, wurden die umgangssprachlich als Ghettos bezeichneten jüdischen Wohnbezirke in Oberschlesien erst spät geschlossen. Davor hatten sie den Charakter von den Juden zugewiesenen Wohnbezirken bzw. waren Bezirke mit einer gemischten jüdischen- nichtjüdischen Bevölkerung, in denen die Juden sich unter bestimmten Einschränkungen und gekennzeichnet relativ wenig behindert bewegen konnten", (a.a.O., Seite 4).

Unter Hinweis auf die bereits 1946 erschienene Monographie von Elias Szternfinkiel "Zaglada Zydow Sosnowca", übersetzt: Die Vernichtung der Juden von Sosnowitz", Katowice, 1946, greift Professor Dr. G2 dessen Begriff des "moralischen Ghettos" für die Zeit vor der förmlichen Schließung der Ghettos in Ostoberschlesien auf. Auch der Sachverständige B. beschreibt, dass die Menschen diesen Zustand "de facto" als Ghettoisierung empfunden hätten (wenn auch "de jure" nach seiner Auffassung noch kein Ghetto bestanden habe, B.- Gutachten vom 31.12.2002, Seite 35).

Der Sachverständige A1 B. hat in seinen für die Sozialgerichtsbarkeit in Nordrhein-Westfalen erstellten Gutachten darauf verwiesen, dass erst im Herbst 1942 mit der Errichtung von geschlossenen Ghettos in Ostoberschlesien begonnen worden sei (Gutachten vom 24.11.1997, Seite 6, Gutachten vom September 2002, Seite 15). Auch weist er darauf hin, dass die Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung Ostoberschlesien erst zu einem Zeitpunkt eingesetzt habe, als in den übrigen eingegliederten Ostgebieten und dem Generalgouvernement der größte Teil der dort lebenden Juden bereits vernichtet gewesen sei (Gutachten vom 24.11.1997, Seite 10).

Andererseits beschreibt der Gutachter B. ebenso wie Professor Dr. G2 eine Vielzahl von gegen die jüdische Bevölkerung bereits ab 1939 gerichteten Maßnahmen.

Ausgangspunkt sei der so genannte Ghettoisierungsbefehl Heydrichs gewesen (B.- Gutachten vom 24.11.1997, Seite 38). Bereits darin finden sich Anweisungen nicht nur zum geplanten Mord an den Juden, sondern auch zu Aufenthaltsfragen der jüdischen Bevölkerung. Das Gebiet Ostoberschlesiens sollte danach möglichst judenfrei gemacht werden, zumindest aber dahin gezielt werden, nur wenige Konzentrierungsstädte zu bilden (zitiert nach B., Gutachten vom 24.11.1997, Seite 38). Ebenso habe Heydrich vom "Vorrang der wirtschaftlichen Notwendigkeiten" bei der Anordnung von antijüdischen Maßnahmen, wie z.B. dem Verbot, das Ghettogebiet zu verlassen , oder Befolgung von Sperrzeiten oder sonstigen Ausgangssperren..."( B., a.a.O., Seite 38 und zu weiteren Einschränkungen auch Seite 41, 55).

Bereits in der Zeit zwischen 21. Dezember 1939 und Januar 1940 wurde die Kennzeichnungspflicht in Ostoberschlesien für die jüdische Bevölkerung eingeführt. Sie mussten zunächst eine Armbinde mit einem Davidstern tragen, (ab September 1941 galt für alle Juden wie im "Altreich die Kennzeichnung durch einen gelben Stern mit der Aufschrift "Jude" auf der linken Brustseite und am Rücken), sich bei den jüdischen Gemeinden zwangsregistrieren lassen, jüdische Geschäfte als solche registrieren lassen und ab Mai 1941 Zwangsvornamen tragen (Professor- G2- Gutachten Seite 4/5).

Bei Dr. B1 F., "Gutachtliche Äußerung zur Behandlung ehemaliger "Schutzangehöriger" bei Anwendung des Fremdrentengesetzes Artikel 15 RRG 92/ § 17 FRG vom 01.03.1994 heißt es als Seite 11 zur Situation in Sosnowitz bereits unmittelbar nach der Besetzung: "Schwere Massaker prägten das Ghettoleben, nachdem selbst das Benutzen der nicht erlaubten Straßenseite den Tod bedeuten konnte."

Professor Dr. G2 verweist auf die "Judenumsiedlung" gemäß Anordnung des Oberbürgermeisters von Sosnowitz vom 21. März 1940, bei der es um die Umsiedlung des bisherigen Ghettos und die Ansiedlung deutscher Ladengeschäfte auf dessen früheren Gelände geht. (Professor- G2- Gutachten Seite 6; abgedruckt als Anlage 4 bei Dr. B1 F.,, a.a.O.). Damit werde deutlich, dass man bereits vor diesem Zeitpunkt das Gebiet, in dem die jüdische Bevölkerung lebte, als Ghetto wahrgenommen habe.

Übereinstimmend berichten die Gutachter über den in städtischen Verordnungen vom Frühjahr 1941 formalisierten so genannten "Judenbann" (B.- Gutachten von September 2002, Seite 13, Professor- G2- Gutachten Seite 6/7). Zu diesem Zeitpunkt gab es rechtliche und wohnraumbezogene Beschränkungen, einen jüdischen Ordnungsdienst (Polizei), Wirtschafts- und Verkehrsbeschränkungen. Die jüdische Bevölkerung wurde gezwungen, nur in bestimmten Straßen der Städte zu wohnen, dafür gegebenenfalls auch umzuziehen, Wohnungen an den Hauptstraßen zu räumen, wobei sie die Einrichtung hinterlassen musste, ab 1940 die Hauptstraßen auch nicht mehr zu betreten, sondern zu umgehen, um die für sie noch erlaubten Wohnviertel zu erreichen (vgl. hierzu Professor- G2- Gutachten Seite 6). Dies war "auch schon in dieser Phase der schäbigste Teil der Stadt",( Professor- G2- Gutachten Seite 7) .


Dennoch führt auch Professor G2 an, dass zwischen den einzelnen Ghettos der Region Freizügigkeit geherrscht habe (a.a.O., Seite 7).

Dies änderte sich im Juli 1941 mit der "Anordnung über den Aufenthalt der Juden" des Oberpräsidenten der Provinz Oberschlesien vom 31.7.1941. Fortan durften Juden " den Ort, an dem sie ihren gegenwärtigen Wohnsitz haben, ohne besondere schriftliche Genehmigung der Ortspolizeibehörde nicht verlassen" (B. Gutachten vom September 2002, Seite 32 und 91).

Auf die Tatsache der im Vergleich mit den Verhältnissen besonders im Generalgouvernement späteren förmlichen Schließung der Ghettos in Ostoberschlesien wird auch in der Literatur in unterschiedlicher Weise hingewiesen. In der Enzyklopädie des Holocaust (orig.: Encyclopedia of the Holocaust, Haupt- Hrsg. Israel Gutman, Originalausgabe 1990, deutsche Ausgabe, Hrsg. Eberhard Jäckel, 1993, Bd.II, Seite 1082) ist ausgeführt: "In Ostoberschlesien wurden vor dem Frühjahr 1943 keine Ghettos eingerichtet, auch wenn den Juden verboten war, im bestimmten Gegenden zu wohnen... ..".

Demgegenüber heißt es bei Sybille Steinbacher, Musterstadt Auschwitz, München 2000 über verschiedene Ghettos in Ostoberschlesien:" Eng zusammengepfercht lebten die Juden in den primitiven Wohnungen der infrastrukturell unterentwickelten Stadtteile, wo es zumeist weder Kanalanschluss noch elektrisches Licht gab. Die Judenbezirke Ostoberschlesiens waren jedoch keine geschlossenen Ghettos, und trotz strenger Reglementierung bestanden Kontaktmöglichkeiten nach draußen ", (a.a.O., Seite 121) An anderer Stelle schreibt die Historikerin über die Altstadt von Auschwitz, dass diese: " ebenso wie die großen Judenviertel in Bendzin, Sosnowitz und Dombrowa ein "offenes" Ghetto gewesen sei und dass die Lebensbedingungen der jüdischen Bevölkerung in Auschwitz " jenen in einem abgeriegelten Ghetto durchaus gleich" gekommen seien (a.a.O., Seite 168).

Im "Notizbuch der Gemeinden, Enzyklopädie der jüdischen Ansiedlungen, Polen, Bd. 3 Westgalizien und Schlesien (Bl. 51 der Prozessakte) heißt es hinsichtlich der Verhältnisse in Wadowice im Zeitraum ab Oktober 1939 : "Die Bewegungsfreiheit der Juden außerhalb der Stadt wurde eingeschränkt; in der Stadt selbst wurde ihnen verboten sich in den Hauptstraßen (in den Straßen 3. Mai, Mickiewicz, Slowacki und Kremlicka) und auf öffentlichen Plätzen zu bewegen..."

In anderen Quellen finden sich nicht nachvollziehbare Angaben, so z.B. bei "keom" für die ineinander über gehenden Orte Bedzin und Sosnowitz. Während nach keom das Ghetto in Bedzin bereits am 01.07.1940 eröffnet worden sein soll, soll dies für das Ghetto in Sosnowitz erst am 01.10.1942 geschehen sein), obwohl beide Orte ineinander übergingen und "die Lage der Juden in beiden Städten ähnlich war...., Professor Dr. G2- Gutachten, Seite 8).

Teilweise wird gar kein Anfangsdatum für die Ghettos in Oberschlesien genannt, so in der oben zitierten "ARC Ghetto List und bei "keom" für Wadowice.

Nach Auffassung der Beklagten, die sie allerdings in anderen Verfahren und nicht hier geäußert hat, ist von Zwangsaufenthalten in Ghettos in Ostoberschlesien im Sinne des ZRBG erst ab Januar 1943 (so für Bedzin zum Verfahren des SG Hamburg S 4 RJ 416/04 und im Verfahren der Kammer S 9 RJ 1714/04) auszugehen. Dabei bezieht sich die Beklagte insbesondere auf die bereits zitierten Gutachten des Herrn A1 B..

Auch in der Rechtsprechung finden sich unterschiedliche Ansätze. Der Beginn der Ghettoisierung in Oberschlesien wurde offen gelassen vom LSG Hamburg im Verfahren L 1 RJ 26/03 vom 18.05.2005, nachdem die Vorinstanz von einer Errichtung des Ghettos in Sosnowitz erst im Oktober 1942 ausgegangen war. Dem gegenüber hat das SG Düsseldorf in dem nicht rechtskräftigen Urteil zum Aktenzeichen S 39 RJ 28/01 am 15.09.2004 ausführlich begründet, warum Ghettos in Oberschlesien bereits wesentlich früher bestanden hätten. Die Entscheidung verweist darauf, dass es befremdlich wäre, wenn der Gesetzgeber gerade für diejenigen (am ehesten regulären) Beschäftigungsverhältnisse eine Rentengewährung nach dem ZRBG nicht habe zugrundelegen wollen, die vor den großen Vernichtungsprogrammen und Deportationen gegenüber der jüdischen Bevölkerung in Ostoberschlesien ab Herbst 1942 in große Anzahl in den Sammelwerkstätten, privaten Einzelbetrieben, jüdischen Unternehmensbetrieben usw. bestanden hätten. Vielmehr sei der Ghettobegriff des ZRBG, den das Gericht im wesentlichen dem des bereits vor der Verfolgung existierenden jüdischen Wohnbezirks, jedoch mit aufgezwungener und kontrollierter Separierung insbesondere im Jahr 1941 gleichsetzt, in Abgrenzung zu Zwangsarbeitslagern und Konzentrationslagern zu verstehen.

Im Urteil des SG Düsseldorf heißt es: "Das genannte Fazit B.'s (dass die Judenviertel in Ostoberschlesien lediglich "de facto", nicht jedoch "de jure" Ghettos gewesen seien) offenbart, dass er sich bei der Frage der Ghetto- Errichtung ausschließlich an der Definition und Zielsetzung der NS- Behörden in Ostoberschlesien orientiert und nicht an der tatsächlichen Lebenssituation der jüdischen Bevölkerung..... Abzustellen ist vielmehr auf die tatsächliche Lebenssituation der jüdischen Bevölkerung in Ostoberschlesien in Abgrenzung zur Beschäftigung in Zwangsarbeits- und Konzentrationslagern."

Dieser Auffassung des SG Düsseldorf folgt die Kammer hinsichtlich der Definition des Ghetto- Begriffs uneingeschränkt. Nach Auffassung der Kammer erfordert ein Anspruch nach dem ZRBG jedoch zusätzlich einen zwangsweisen Aufenthalt im Ghetto, der gesondert zu begründen ist (zu dem im Urteil des SG Düsseldorf zwar Stellung genommen ist, jedoch nicht getrennt vom Ghetto- Begriff) .

Ob ein solcher zwangsweiser Aufenthalt der jüdischen Bevölkerung in den Ghettos in Oberschlesien bereits für Zeiträume unmittelbar nach der Besetzung des Gebiets im Herbst 1939 oder schon ab Beginn des Jahres 1940 anzunehmen ist, kann hier dahingestellt bleiben.

Fraglich sind hier nur die Umstände ab Mai 1941. Erst von diesem Zeitpunkt an macht der Kläger nach der oben geschilderten Auslegung der Kammer Ansprüche geltend, weil nach seiner Auffassung von diesem Zeitpunkt an ein Ghetto in Wadowice errichtet war.

Ab Mai 1941 ist davon auszugehen, dass sich die jüdische Bevölkerung in Wadowice zwangsweise im dortigen Ghetto aufhalten musste.

Das hat auch der Zeuge G1 im Entschädigungsverfahren so beschrieben, wenn er sagt: " Erst später richteten die Deutschen in Wadowice auch ein Ghetto ein und gewisse Straßen wurden zu Judenstraßen erklärt, in denen alle Juden zu wohnen hatten. Der Anfang dieses Ghettos vor etwa am 1. Mai 1941. Es gab nach meiner Erinnerung wohl im damaligen Zeitpunkt noch keinen Zaun, aber es war gefährlich den Ort zu verlassen , wenn man sich nicht schweren Gefahren aussetzen wollte, und es hätte dies auch kein Jude gewagt. Ich nehme an, dass das Ghetto erst 1942 vollkommen von der Außenwelt abgeschlossen war." Auch der Kläger beschreibt dieselbe Lage, wenn er gegenüber der Claims Conference im Jahr 1993 die Situation wie folgt darstellt: "The ghetto was established on the former market place. It was not surrounded by any fence, but we were strictly forbidden to go to the gentile ( nichtjüdisch ) territory...."

Maßgeblich sind nach Auffassung der Kammer in erster Linie die Anordnungen, Erlasse und sonstigen Regelungen gegenüber der jüdischen Bevölkerung in Ostoberschlesien, die deren Leben auch bereits vor Herbst 1942 dahin gehend geregelt haben, dass sie nicht frei entscheiden konnten, wo sie wohnen wollten, ob sie in ihren bisherigen Wohnungen verbleiben oder umziehen müssen. Dies gilt insbesondere für den übereinstimmend von den gerichtlichen Sachverständigen Professor Dr. G2 und B. beschriebenen so genannten "Judenbann", der in einzelnen Städten bereits ab 1939/1940 bestand und Anfang 1941 (so der Sachverständige B., Gutachten September 2002, Seite 13 und Gutachten vom 24.11.1997, Seite 96) bzw. im Frühjahr 1941 (so Professor Dr. G2, Seite 6/7) formalisiert und überall eingeführt wurde; zum Begriff: B. Gutachten vom 24.11.1997, Anmerkungen Seite 23 Nr. 55).

Beide Sachverständige beschreiben denselben Vorgang, werten ihn jedoch unterschiedlich. Während der Gutachter B. schon ein Ghetto nur bei strikter Trennung der Bevölkerungskreise annimmt, bei der ein gemeinsames Zusammenleben beendet und der Bevölkerung ein Verlassen des Bezirks nicht mehr möglich ist, auch nicht zu bestimmten Zeiten, wertet Professor Dr. G2 die Situation ähnlich der der Ghettos im Generalgouvernement: " "Damit handelte es sich von der vollständigen Erfassung durch die Judenräte aufgrund von um den 10. September 1939 ergangenen Anordnungen an um Organisationsformen, die denen der "offenen Ghettos " und der " Dorfghettos " im Generalgouvernement ähnlich waren. Es gab die Kennzeichnung, die Ausraubung, die rechtliche und wohnraumbezogene Beschränkung, einen jüdischen Ordnungsdienst (Polizei) Wirtschafts- und Verkehrsbeschränkungen und die Judenräte, die alle Verwaltungsangelegenheiten regelten und den Deutschen unmittelbar als Ausführungsorgan unterstanden und zuarbeiteten. Der Unterschied zu den den Laien gewohnten " geschlossenen " Ghettos bestand darin dass es zunächst nur partiell zu einem Bevölkerungsaustausch (Auszug der Nicht- Juden aus dem Ghettobezirk, Einsiedlung der Juden aus dem übrigen Stadtgebiet) kam und dass trotz erlassenen Beschränkungen diese nicht durch Mauer und Stacheldraht umgesetzt wurden.

Damit ist aber auch die Interpretationsmöglichkeit gegeben, dass jeweils nahezu das gesamte Stadtgebiet als Getto behandelt wurde." (Professor- Dr. G2- Gutachten, Seite 5)

Und Kossoy schreibt unter Bezugnahme auf die teilweise seit Jahrhunderten bestehenden jüdischen Wohnbezirke: "Diese Tatsachen sind von Bedeutung, wenn von der "Errichtung" von Ghettos in Polen gesprochen wird. In vielen Fällen war hier nichts eigentlich zu errichten, da das Ghetto schon seit langem bestand. Erst durch die zahlreichen polizeilichen Verordnungen, durch welche der jüdischen Bevölkerung die Bewegungsfreiheit genommen wurde, wurden diese praktisch "ins Ghetto eingewiesen" bzw. im Ghetto inhaftiert , obwohl sich zunächst wenig in ihren Lebensgewohnheiten geändert hat (Kossoy, Edward: Handbuch zum Entschädigungsverfahren, München 1958 S. 118).


Wenn jemand, wie dies mit dem "Judenbann" angeordnet wurde, gezwungen wird, nur innerhalb eines bestimmten Wohngebiets und dort innerhalb bestimmter Straßen zu wohnen, seine Wohnung an einer Hauptstraße unter Aufgabe seines Hausstandes zu verlassen, nur noch Hinterhauswohnungen zu beziehen, bestimmte Straßen nicht zu benutzen, ganz generell hinsichtlich der alltäglichen Erledigungen (z.B. Wege mit der Straßenbahn zurückzulegen, Verrichtungen bei der Post auszuführen, öffentliche Parks und Sportanlagen zu benutzen) daran gehindert oder abgesondert wird von der nichtjüdischen Bevölkerung, so ergibt sich nach Auffassung der Kammer hieraus ein zwangsweiser Aufenthalt in den Ghetto genannten jüdischen Wohnbezirken. Maßgeblich sind die tatsächlichen Verhältnisse. Anordnungen, die es unter Strafe verbieten, sich anderswo aufzuhalten, stellen genau wie Mauern oder Zäune einen Zwang dar, dem sich die Betroffenen beugen mussten. Die von Kossoy so genannte Inhaftierung impliziert schon vom Wort her einen zwangsweisen Aufenthalt.

Es ist an keiner Stelle des ZRBG ersichtlich, dass ein zwangsweiser Aufenthalt nur ein solcher sein sollte, bei dem die Betroffenen mittels Mauern oder Stacheldraht oder ähnlichem zum Aufenthalt in diesem Gebiet gezwungen werden. Auch bei den geschlossenen Ghettos war die Art der Abschließung unterschiedlich. In Warschau und Krakau gab es eine Mauer, das Ghetto in Riga war mit Stacheldraht abgeriegelt, während es in Zawiercie und Zwolen (Zwolen liegt im Generalgouvernement) offenbar immer nur Warnungstafeln gab (Kossoy, a.a.O., S. 119). Entscheidend ist, worauf auch Kossoy hinweist, dass diejenigen Juden, die ohne Sondergenehmigung außerhalb der Ghettogrenzen angetroffen wurden, bestraft wurden und dass ihnen durch die polizeilichen Verordnungen die Bewegungsfreiheit genommen wurde.

c) In der fraglichen Zeit hat der Kläger Beschäftigungen "im Ghetto" ausgeübt, nämlich als Glaser sowie bei Flussregulierungsarbeiten am Flüsschen Skava, auch bei Straßenarbeiten verschiedener Art und möglicherweise auch in einer Weberei.

In der Tätigkeit des Klägers als Glaser liegt eine Beschäftigung im Sinne des ZRBG. Die Kammer hat keine Zweifel, dass der Kläger die bereits im Entschädigungsverfahren (Erklärung vom 13.3.1954) und auch im Renten - und Klageverfahren beschriebenen Tätigkeiten verrichtet hat.

Diese Tätigkeiten hat der Kläger über den in Wadowice gebildeten Judenrat erhalten, wie er ausführlich in seinen beiden im Klageverfahren eingereichten notariell beglaubigten eigenen Erklärungen vom 20.7.2004 und vom 18.8.2005 erläutert hat. Diese Schilderung des Klägers erscheint der Kammer glaubhaft im Sinne einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit, dass die Angaben des Klägers zutreffen. Wenn der Kläger immer wieder, auch bereits im Entschädigungsverfahren, angegeben hat, dass er beim Arbeitsamt als Glaser, seinem Lehrberuf, registriert gewesen sei und jeweils über den Judenrat "Aufträge" erhalten habe, so ist dies im Hinblick auf das Gutachten von Prof. Dr. G2 (vgl. z.B. Seite 17, 24 und 27) plausibel. Im Gutachten heißt es auf Seite 23 zudem:

"Neben den auf diese Weise ( bei der Dienststelle Schmelt in so genannten Shops) Beschäftigten gab es in den großen Ghettos die üblichen städtischen Dienste, den vom Judenrat getragenen öffentlichen Bereich und die Möglichkeit, privat unselbstständig oder selbstständig zu arbeiten."

Seine Erklärungen stehen nach Auffassung der Kammer nicht in Widerspruch zu den ebenfalls im Entschädigungsverfahren und gegenüber der Claims Conference gemachten Angaben, dass er Tätigkeiten bei der Flussregulierung und im Straßenbau sowie in einer Weberei im Ghetto Wadowice verrichtet habe. Allenfalls sind die Schwerpunkte unterschiedlich gesetzt. Dass der Kläger seine Tätigkeit als Glaser gegenüber der Claims Conference unter der Rubrik "Beschreibung der Verfolgung" gar nicht erwähnt hat, sondern nur die übrigen (möglicherweise zwangsweise erbrachten) Tätigkeiten, legt die Annahme nahe, dass er nur diejenigen Tätigkeiten, die nicht seinem erlernten Beruf entsprachen, der Verfolgung und der Zwangsarbeit zugerechnet und korrekt zur Anspruchsbegründung angegeben hat.

Die Kammer ist der Überzeugung, dass der Kläger im Ghetto Wadowice verschiedene Tätigkeiten verrichtet hat. Dies ergibt sich schon aus den Zeugenaussagen, die bereits im Entschädigungsverfahren vorlagen, so z.B. der Aussage des Zeugen G1 vom 30.06.1954 (Blatt 10 der Entschädigungsakte wegen Freiheitsschadens) und der eidesstattlichen Versicherung des Klägers selbst vom 13.03.1954 (Blatt 11/12 der Entschädigungsakte), in der neben der Tätigkeit als Glaser die anderen Arbeiten mit erwähnt sind.

Der Kläger hat in der eigenen Erklärung vom 18.08.2005 hierzu nochmals dahingehend Stellung genommen, dass er überwiegend als Glaser beschäftigt gewesen sei und nur, wenn keine Aufträge vorgelegen hätten, was selten gewesen sei, zu den anderen Arbeiten herangezogen worden sei. Dass die jüdische Bevölkerung besonders in der ersten Zeit der Besetzung Polens vollkommen willkürlich zu verschiedensten Arbeiten abgefangen wurden, die sie dann zumindest tageweise (vgl. Gutachten Seite 11 für Sosnowiec) verrichten mussten (Professor Dr. G2- Gutachten Seite 15 zu Fragen 2. und 3. und Seite 29, zu Frage 11).

Nach allen historischen Erkenntnissen, die der Kammer mittlerweile bekannt geworden sind, war es durchweg so, dass ausgebildete (Fach-) Arbeiter wie der Kläger sowohl von ihrem eigenen Interesse her als auch von den Bestrebungen der Judenräte in ihrem Beruf eingesetzt wurden, soweit solche Tätigkeiten angefordert wurden oder sonst erforderlich waren. Bei Dr. B1 F., "Gutachtliche Äußerung zur Behandlung ehemaliger "Schutzangehöriger" bei Anwendung des Fremdrentengesetzes Artikel 15 RRG 92/ § 17 FRG vom 01.03.1994 heißt es auf Seite 11 ausdrücklich:

"Im ganzen sogenannten Grubengebiet (Sosnowitz, Bendsburg u.a.) wurde durch die jüdischen Gemeinden die Registrierung aller gesunden Männern durchgeführt, um sie als unqualifizierte oder als Facharbeiter gegen Bezahlung in Arbeit zubringen. Wer Arbeit hatte, hatte einen Ausweis. Wer keinen Ausweis hatte, konnte zur Zwangsarbeit oder sogar aus dieser Welt transportiert werden. "

Dass es daneben und zwischendrin aber immer auch zu Einsätzen bei anderen Tätigkeiten gekommen ist, wenn an bestimmten Tagen kein Bedarf an Facharbeiten bestand, ergibt sich nicht nur aus einer Vielzahl von Schilderungen der Verfolgten, sondern auch aus der Quellenlage (vgl. z.B. Notizbuch der Gemeinden, Enzyklopädie der jüdischen Ansiedlungen, Polen, Bd. 3 Westgalizien und Schlesien (Bl. 51 und 52 der Prozessakte). Für Wadowice wird dort ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Judenrat gehofft habe, durch die Schaffung von Arbeitsplätzen, die für die deutsche Wirtschaft wichtig waren (dies meint der Kläger offenbar mit dem Begriff "kriegswichtig", mit dem er seine Arbeit als Glaser in der Erklärung vom 18.08.2005 bezeichnet hat), "Verschleppungen zur Zwangsarbeit außerhalb der Stadt einzuschränken ".

d) Der Kläger hat die Beschäftigung im Ghetto als Glaser aus eigenem Willensentschluss ausgeübt. Der Begriff ist im ZRBG selbst nicht definiert. Hinweise finden sich allerdings in der früheren Rechtsprechung des BSG:

Im so genannten "Lodz- Urteil des Bundessozialgerichts "BSG 5 RJ 66/95 ist ausgeführt: "Rechtsgrundlage für Arbeit in diesem Sinne ist das Arbeits-/Beschäftigungsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Zustande kommt das Arbeits-/Beschäftigungsverhältnis durch Vereinbarung zwischen den Beteiligten. Typisch ist mithin, dass auf beiden Seiten jeweils eigene Entschlüsse zur Beschäftigung vorliegen, die nach dem Modell der Erklärungen bei einem Vertragsschluss geäußert werden. Nach seinem unmittelbaren Zweck und dem daran ausgerichteten Inhalt ist das Arbeits-/Beschäftigungsverhältnis ein Austausch wirtschaftlicher Werte i.S. einer Gegenseitigkeitsbeziehung."

Dabei ist die Frage, ob im Einzelfall ein freies oder unfreies Beschäftigungsverhältnis begründet worden ist, nicht nach den sonstigen Lebensumständen, unter denen der Beschäftigte leben musste, zu beantworten, sondern daraufhin zu untersuchen, ob es "frei" im oben bezeichneten Sinne eines aus eigenem Antrieb begründeten Vertragsschlusses war...... (BSG B 5 RJ 48/98 R m.w.N.)

Die Annahme eines grundsätzlich versicherungspflichtigen Beschäftigungs-verhältnisses kann dabei nach der Rechtsprechung des BSG "nicht deshalb unterbleiben, weil die Wirtschaftsverfassung, die auf dem freien Austausch von Arbeitsleistung und Lohn basiert, unter der Herrschaft des Nationalsozialismus für einen bestimmten Personenkreis "praktisch nicht mehr existent" war".... BSG, B 5 RJ 48/98 R).

Mit den Tatbestandsmerkmalen des § 1 Abs. 1 ZRBG hat der Gesetzgeber erkennbar an die bisherige höchstrichterliche Rechtsprechung angeknüpft. Wie sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt, wurde das ZRBG durch den Deutschen Bundestag in Reaktion auf die Entscheidungen des Bundessozialgerichtes aus dem Jahr 1997 zu Beschäftigungszeiten im Ghetto Lodz beschlossen. Die in § 1 Abs. 1 ZRBG genannten Kriterien folgen ausdrücklich dieser Rechtsprechung (Deutscher Bundestag - BT- Drs. vom 19.3.2002, 14/8583, S. 5 f.). Das Vorliegen eines Beschäftigungsverhältnisses soll im Rahmen des ZRBG sicherstellen, dass ein gewisser Bezug zur Versichertengemeinschaft gegeben ist, denn der Gesetzgeber hat mit dem ZRBG zwar eine bisher bestehende Lücke bei der Wiedergutmachung schließen wollen (Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll vom 25.4.2002, 14/233, S. 2379, Reden von Claudia Nolte, Ekin Deligöz, Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Ilja Seifert) aber kein reines Entschädigungsgesetz geschaffen (vgl. Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, Bericht zur Umsetzung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto und zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (ZRBG) vom 15.2.2005, S.6; zur Auslegung des ZRBG siehe auch: BSG, Urteil vom 7.10.2004, B 13 RJ 59/03 R und Urteil vom 20.7.2005, B 13 RJ 37/04 R).


Zwangsarbeit ergibt sich nicht aus der Tatsache, dass der Kläger dem Arbeitszwang unterlag. Nach der Rechtsprechung kann nicht davon ausgegangen werden, dass die damalige Regulierung des Arbeitsmarktes sowie das Bestehen allgemeiner Arbeitspflichten die Gesamtheit aller Arbeitsverhältnisse derart obrigkeitlich/hoheitlich überlagert haben, dass diese den Charakter von Zwangsarbeit angenommen hätte (vgl BSG B 13 RJ 75/98 R m.w. Hinweis insbesondere auf BSG SozR 3-2200 § 1251 Nr 7; BSGE 80, 250 = SozR 3-2200 § 1248 Nr 15).

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Verhältnisse in den so genannten eingegliederten Gebieten nicht direkt mit denen im Generalgouvernement vergleichbar sind. Bei Dr. B1 F. heißt es dazu auf Seite 5: " es ist bekannt, dass die Behandlung der Juden in den eingegliederten Ostgebieten eine andere war als im übrigen Polen. Ein förmlicher Arbeitszwang im Sinne eines besonderen öffentlich-rechtlichen Gewaltverhältnisses (vergleichbar mit der Durchführungs- VO vom 12.12.1939 im Generalgouvernement) bestand dort nicht. "

Die Abgrenzung von sogenannten "freien" Beschäftigungsverhältnissen gegenüber Zwangsarbeit ist vielmehr jeweils im Einzelfall vorzunehmen und nicht an starren Einzelkriterien festzumachen, sondern anhand des Gesamtbildes zu ermitteln. "Bei dem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis handelt es sich nicht um einen tatbestandlich scharf konturierten Begriff, der eine einfache Subsumtion ermöglicht, sondern um einen rechtlichen Tatbestand, der die versicherten Personen nicht im Detail definiert, sondern ausgehend vom Normalfall in der Form eines Typus beschreibt. Die den Typus kennzeichnenden Merkmale (Indizien) können in unterschiedlichem Maße und verschiedener Intensität gegeben sein; selbst das Fehlen einzelner Merkmale muss nicht unbedingt zur Verneinung einer Beschäftigung in diesem Sinne führen", BVerfG in SozR 3-2400 § 7 Nr. 11).

Andererseits ist dem Typusbegriff auch zu entnehmen, dass bestimmte Umstände der Annahme eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses dann nicht entgegenstehen, wenn sie auf die einzelnen Merkmale keinen entscheidenden Einfluss haben. So ist vom BSG - gerade bei der Beurteilung von Arbeitsleistung in einem Ghetto - betont worden, dass die Beweggründe, die jemanden zur Aufnahme einer Beschäftigung veranlassen, sowie allgemeine Lebensumstände, die nicht die Arbeit oder das Arbeitsentgelt selbst, sondern das häusliche, familiäre, wohnungs- und aufenthaltsmäßige Umfeld betreffen, außer Betracht bleiben. Demgemäß ist für die Annahme eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses auch nicht entscheidend, ob Personen, die sich in einem Beschäftigungsverhältnis befinden, zwangsweise ortsgebunden sind. Gemessen an diesen Kriterien ist unter Zwang zustande gekommene und verrichtete Arbeit (z.B. als Strafgefangener oder KZ-Häftling) - wie das BSG wiederholt entschieden hat - grundsätzlich nicht als versicherungspflichtige Beschäftigung einzustufen. (vgl. BSG B 13 RJ 75/98 R mit weiteren Nachweisen auf die gefestigte Rechtsprechung des BSG).

Als Zwangsarbeit hat das BSG dabei insbesondere die Verrichtung von Arbeit unter obrigkeitlichem (hoheitlichem) bzw. gesetzlichem Zwang, wie z.B. bei Strafgefangenen und Kriegsgefangenen (so z.B. BSGE 80, 250, 253) bezeichnet. Typisch, so das BSG - ist dabei z.B. die obrigkeitliche Zuweisung von Arbeitern an bestimmte Unternehmen, ohne dass die Arbeiter selbst hierauf Einfluss haben. Weiter ist charakteristisch für Zwangsarbeit, dass ein Entgelt für die individuell geleistete Arbeit nicht oder nur in geringem Maße an den Arbeiter ausgezahlt wird (so BSGE 38, 245). Entsprechendes gilt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung für die Bewachung der Arbeiter während der Arbeit, um zu verhindern, dass diese sich aus dem obrigkeitlichen Gewahrsam entfernen können (vgl. BSGE 12, 71). Diese beispielhaft aufgeführten Kriterien zeigen, dass eine verrichtete Arbeit sich um so mehr von dem Typus des Arbeits-/Beschäftigungsverhältnisses entfernt und dem Typus der Zwangsarbeit annähert, als sie durch hoheitliche Eingriffe überlagert wird, denen sich der Betroffene nicht entziehen kann (BSG B 13 RJ 71/98 R).

Dass der Kläger während seines Zwangsaufenthaltes im Ghetto als Glaser gearbeitet hat, ist nach den Erklärungen im Entschädigungs-, Renten- und Klageverfahren nicht zweifelhaft.

Er selbst hat im Entschädigungsverfahren angegeben, in der Zeit nach Errichtung des Ghettos Wadowice für die Deutschen Zwangsarbeiten als Glaser sowie weitere Tätigkeiten geleistet zu haben.

Trotz der Verwendung des Begriffs der Zwangsarbeit in der Entschädigungsakte ist die Kammer der Ansicht, dass der Kläger zumindest die Tätigkeiten als Glaser im Ghetto im Rahmen "freier" Beschäftigungsverhältnisse ausgeübt hat. Die Verwendung des Begriffs Zwangsarbeit lässt nämlich regelmäßig keinen Aufschluss über die konkreten Bedingungen der im Ghetto geleisteten Arbeit zu. Vielmehr dürften in der Erinnerung der Betroffenen die Zwangsbedingungen im Ghetto und die mit dem Nicht-Innehaben eines Arbeitsplatzes verbundene Angst vor Deportation und Vernichtung auch die Beurteilung der Arbeitsumstände wesentlich geprägt haben.

Im Gutachten von Dr. B1 F. heißt es dazu auf Seite 4:

"Rentenrechtliche Tatbestände waren nicht Gegenstand entschädigungsrechtlicher Bestimmungen. Solche sind für die Zeit ab September 1939 im Entschädigungsverfahren nicht gefragt gewesen. Da dort rechtlich völlig unbeachtlich, war es nicht erforderlich, dass die Verfolgte neben entschädigungsrechtlichen Tatsachen auch solche vortragen, die den Sozialversicherungsrecht zuzuordnen sind."

Der Terminus Zwangsarbeit bzw. "forced labor" ist daher bei den Überlebenden des Holocaust für Arbeitstätigkeiten während der gesamten nationalsozialistischen Verfolgung durchaus gebräuchlich. Aus der Verwendung der Begriffe kann aber wegen ihrer subjektiven Prägung (vgl. BSG, Urteil vom 30.8.2001, B 13 RJ 59/00 R) eine Klassifizierung in die Kategorien des Rentenrechts nicht abgeleitet werden. Maßgeblich sind vielmehr die konkreten Umstände des Zustandekommens und der Aufnahme der Beschäftigung im Einzelfall.

Hinsichtlich der Tätigkeit als Glaser bezeichnete der Kläger selbst die Arbeit jedoch schon damals als Arbeiten in seinem Fache (Eidesstattliche Erklärung vom 13.3.1954), was nicht auf Zwangsarbeit hindeutet, sondern auf die weitere Ausübung seines Berufes. Auch in seinen Erklärungen im Klageverfahren hat er bekräftigt - allerdings auch unter dem Vorzeichen, dass es sich für Ansprüche nach dem ZRBG nicht um Zwangsarbeit handeln darf - dass er sich beim Judenrat um Arbeiten als Glaser bemüht habe, von dort eine Arbeits erlaubnis bekommen habe und gehofft habe, durch diese Arbeit vor Deportation geschützt zu sein.

Die Angaben des Klägers, wie er zu der Tätigkeit als Glaser gekommen sei, sind glaubhaft in dem Sinne, dass mindestens eine gute Möglichkeit dafür besteht, dass er sich diese Tätigkeit zumindest unter mehreren verschiedenen Tätigkeiten hätte aussuchen konnte. Es erscheint der Kammer nahe liegend, dass er Tätigkeiten in seinem erlernten Beruf gewählt hat. Sie werden gestützt durch die oben zitierte Darstellung bei Dr. B1 F. ( vgl. zum Einsatz jüdischer Arbeitskräfte bei Behörden und öffentlichen Betrieben insbesondere Anlage 16 zu seinem Gutachten) sowie im Gutachten von Prof. Dr. G2. Dort heißt es auf Seite 23:

"... gab es in den großen Ghettos die üblichen städtischen Dienste, den von Judenrat getragenen öffentlichen Bereich und die Möglichkeit, privat unselbstständig oder selbstständig zu arbeiten."

In den beschriebenen Angaben liegen Gründe für die Aufnahme der Arbeit, die dem Merkmal der Freiwilligkeit zugehören, anders als z.B. bei der Zuweisung von willkürlich aus einer Gruppe ausgewählten Kontingenten von Arbeitskräften an einen Betrieb oder an das deutsche Militär, die durch den Judenrat benannt werden, ohne dass die Ausgewählten hierauf Einfluss gehabt hätten.

Im Rahmen freier Beweiswürdigung ist zu prüfen, ob glaubhaft ist, dass eine Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist. Dabei ist zu untersuchen, ob dem "Arbeitnehmer" ein gewisser, wenn auch geringer Einfluss auf die Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses bleibt, wie dies für die Arbeit im Ghetto Lodz vielfach angenommen wurde. Dies gilt hier nach den glaubwürdigen Angaben des Klägers zunächst für die Suche nach Arbeit und für die Frage, ob der Kläger diese oder eine andere Tätigkeit oder womöglich auch gar keine Tätigkeit ausübte.

Nach den historischen Erkenntnissen steht für die Kammer fest, dass der Kläger auch andere, ggf. mit schlechteren Lebensmittelzuteilungen entlohnte Arbeiten hätte finden und annehmen können.

Selbst die Beklagte hat sich in ihrem Schriftsatz vom 06.10.2005 dahingehend geäußert, dass die Tätigkeit als Glaser (für gewisse Zeit) als Tätigkeit auf Grund eines eigenen Willensentschlusses glaubhaft gemacht sein könnte.

Fraglich könnte höchstens sein, ob der Kläger die Tätigkeit als Glaser überwiegend und in allen Monaten verrichtet hat oder überwiegend zu anderen Arbeiten herangezogen worden ist, die nicht freiwillig verrichtet worden wären.

Hinsichtlich der Tätigkeiten bei der Flussregulierung sowie Straßenarbeiten hat der Kläger nach richterlichem Hinweis angegeben, diese Arbeiten habe er aushilfsweise , jedoch auch vermittelt durch das "Arbeitsamt" ausgeführt, wenn Tätigkeiten als Glaser nicht vorhanden gewesen seien. Tätigkeiten für Männer bei der Flussregulierung und Reparatur von Straßen und Brücken sind in dem in der Prozessakte vorliegenden Notizbuch der Gemeinden, Enzyklopädie der jüdischen Ansiedlungen, Polen, Bd. 3 Westgalizien und Schlesien (Bl. 51) vom Ghetto Wadowice aus ausdrücklich erwähnt und dort als Zwangsarbeit bezeichnet.

Auch in der Entschädigungsakte des Klägers bezeichnet er selbst die Arbeiten als Zwangsarbeit ebenso wie die Zeugen C. G1 und A2 A.. Die Bezeichnung Zwangsarbeit ist für sich genommen nicht schädlich, wie oben dargelegt.


Es kann dahingestellt bleiben, ob es sich auch bei diesen vom Kläger nur "aushilfsweise" verrichteten Arbeiten um Zwangsarbeit oder noch um freiwillige Beschäftigungsverhältnisse gehandelt hat. Denn die Kammer sieht es angesichts des Vortrags des Klägers im Klageverfahren unter Einbeziehung der Entschädigungsakte einerseits sowie der von Professor Dr. G2 in seinem Gutachten beschriebenen Verhältnisse und der bei Dr. B1 F. genannten Verhältnisse, wonach der Einsatz zu Zwangsarbeiten tage- oder wochenlang erfolgte , als ausreichend glaubhaft gemacht an, dass der Kläger weit überwiegend in seinem erlernten Beruf tätig war.

Professor Dr. G2 beschreibt auf Seite 11 seines Gutachtens folgende Situation für Sosnowitz:

"Die Umsetzung der Arbeitspflicht erfolgte nach den ersten Erfahrungen mit dem "Abfangen" von Juden durch die Deutschen über den Judenrat. Der Judenrat führte eine Registrierung durch und regelte die Arbeitspflicht, indem Juden bis zum Alter von 55 Jahren sieben Tage im Monat gemäß der Einteilung durch den Judenrat arbeiten mussten. Dabei handelte es sich zumeist um öffentliche Arbeiten wie Straßenreinigung und Müllabfuhr. Es gab bei diesem System die Möglichkeit, sich durch eine Geldleistung von der Arbeit frei zu kaufen oder einen Vertreter zu stellen. Diese Möglichkeit implizierte wiederum, dass es Freiwillige gab, die gegen Entgelt dieser Arbeitspflicht im vermehrten Umfang nachzukommen bereit war."

Und auf Seite 15 heißt es:

"Faktisch war die Einweisung oder Deportation zur Zwangsarbeit (Arbeitseinsatz) möglich, tatsächlich traf sie nur einen Teil der Bevölkerung, während die Übrigen entweder befristete zugewiesene Arbeiten zu verrichten hatten oder sich frei um Arbeit bemühen konnten. Auch gab es die Möglichkeit, sich von Zwangsarbeiten frei zu kaufen, so dass einerseits der Vorwurf verbreitet war, nur die Armen müssten arbeiten, andererseits hierin ein Grad der eingeschränkten Freiwilligkeit der Arbeitsaufnahme gesehen werden kann."

Auf Seite 19 des Gutachtens von Prof. Dr. G2 fühlt er aus:

"Die Parallelität von Zwangsarbeit in Lagern und der Arbeit in den "Shops" ist von Bedeutung, da sie die Attraktivität der letzteren und damit die bewusste Willensentscheidung zu Arbeit darin verständlich macht. "

Im zitierten Gutachten von Dr. B1 F. heißt es auf Seite 11:

"Unmittelbar nach der militärischen Besetzung waren Übergriffe an der Tagesordnung, der Einzelne konnte von der Straße weg zu Zwangsarbeiten genommen und tage- oder wochenlang fest gehalten werden.....".

Die Kammer geht deswegen davon aus, dass jedenfalls nach Ende der ersten Zeit der Übergriffe nach Beginn der Besetzung mit Verschleppung zur Zwangsarbeit in der Stadt Wadowice (vgl. die Schilderung im Gutachten von Dr. B1 F., z. B. auf Seite 11). und mit der Einrichtung der Judenräte, die die Anforderung von Arbeitskräften durch die deutsche Besatzungsmacht dadurch kanalisierten, regulierten und verwalteten, dass sie Meldungen für bestimmte Arbeiten entgegen nahmen und die Arbeiter an die anfordernden Stellen vermittelten, die Verrichtung von Zwangsarbeiten durch Facharbeiter und Inhaber von Arbeitsausweisen allenfalls noch tageweise geschah.

Historische Gutachten und andere Quellen ersetzen zwar keineswegs den konkreten Vortrag in der einzelnen Sache. Sie sind aber durchaus geeignet, Behauptungen, deren Wahrscheinlichkeit sonst nicht feststeht, auf Plausibilität zu überprüfen und so dazu beizutragen, dass eine fundierte Entscheidung des Gerichts über streitige Fragen möglich wird. Dies gilt umso mehr, als es um die Beurteilung von Ereignissen geht, die mehr als sechzig Jahre zurückliegen und die sich in Gebieten abgespielt haben, von denen das Gericht kaum eigene Kenntnisse im Einzelnen haben kann und auf fachkundige historische Aussagen angewiesen ist, um nicht Spekulationen auf der einen oder anderen Seite zu erliegen.

Nach den Angaben des Klägers war er im Besitz einer Arbeitserlaubnis vom Judenrat und wurde mit konkreten Aufgaben als Glaser beauftragt (Erklärung vom 20.7.2004), was nahe legt, dass dies seine regelmäßige Arbeit war und er zu anderen Arbeiten allenfalls aushilfsweise herangezogen wurde.

Dem stehen nach Auffassung der Kammer letztlich auch nicht seine Angaben und die Angaben der Zeugen im Entschädigungsverfahren und gegenüber der Claims Conference entgegen, bei denen der Kläger neben den Arbeiten als Glaser ausdrücklich auch die Arbeiten bei der Flussregulierung usw. betont hat. Auf freiwillige Arbeiten im Ghetto kam es im Entschädigungsverfahren überhaupt nicht an, so dass die Angaben schon aus diesem Grund unter einem anderen Schwerpunkt gemacht wurden.

Wenn der Kläger an einzelnen Tagen, möglicherweise auch tageweise in jedem Monat zu anderen Tätigkeiten wie Flussregulierung oder Ähnlichem herangezogen worden ist, ändert das nichts an der nach Auffassung der Kammer vorliegenden regelmäßigen Belegung der Monate seines Aufenthalts im Ghetto Wadowice mit den als freiwillig einzustufenden Tätigkeiten als Glaser.

e) Der Kläger hat die Tätigkeit auch gegen Entgelt ausgeübt.

Auch bei der Auslegung des Entgeltbegriffs im Sinne des ZRBG ist die bisherige Rechtsprechung des BSG zur entgeltlichen Beschäftigung heranzuziehen (vgl. BSG, Urteil vom 7.10.2004, B 13 RJ 59/03 R) . Diese geht im wesentlichen zurück auf § 1226 Reichsversicherungsordnung (RVO) a.F., § 1227 RVO n.F. wonach die Versicherungspflicht eines Beschäftigungsverhältnisses an dessen Entgeltlichkeit anknüpft, wobei die Form der Entgeltzahlung grundsätzlich unerheblich ist. Eine Beschäftigung, für die als Entgelt nur freier Unterhalt gewährt wird, war allerdings seit jeher versicherungsfrei. Werden an Stelle des freien Unterhalts Sachbezüge oder auch geringfügige Geldbeträge zur Bestreitung des notwendigen Unterhalts geleistet, so geht dies über die freie Unterhaltsgewährung hinaus, es sei denn, es handelt sich nur um Sachbezüge in geringerem Umfang zur Befriedigung kleinerer Bedürfnisse und Lebensgewohnheiten. Nach der Rechtsprechung des BSG bedarf es keiner wirtschaftlichen Gleichwertigkeit von Arbeit und Gegenleistung (BSG, Urteil vom 18.6.1997, 5 RJ 66/95). Das Entgelt muss aber - auch unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft - eine gewisse Mindesthöhe erreichen (BSG, Urteil vom 7.10.2004, B 13 RJ 59/03 R). Bei Gewährung von Lebensmitteln ist zu prüfen, "ob sie nach Umfang und Art des Bedarfs unmittelbar zum Verbrauch oder Gebrauch oder nach vorbestimmtem Maße zur beliebigen Verfügung gegeben werden" (BSG, Urteil vom 7.10.2004, B 13 RJ 59/03 R, mit Hinweisen auf die Kommentarliteratur). Unter Anlegung dieser Maßstäbe hat der 13. Senat in seiner Entscheidung vom 7.10.2004 die Gewährung (guter) Verpflegung am Arbeitsplatz im Ghetto Warschau nicht als Entgelt angesehen.

Der Kläger hat den Erhalt einer Gegenleistung für die geleistete Arbeit in einem Sinne, die über die bloße Versorgung mit Mahlzeiten am Arbeitsplatz hinausgeht, im Klageverfahren behauptet. Dort hat er angegeben, er habe - wie alle von uns - außer der warmen Mahlzeit bei oder nach der Arbeit auch Lebensmittelkarten (Rationsmarken) bekommen, an deren Aussehen er sich noch genau erinnere. Diese habe er zum Teil, da er warme Mahlzeiten bei der Arbeit erhalten habe, für den Kauf anderer und notwendiger Dinge benutzt. Er habe die Marken beim Judenrat abgeholt.

Diese Angaben des Klägers sind für die Kammer trotz seiner Angabe im Rentenverfahren, wonach er zwar angegeben hat, er habe Entgelt erhalten, zur Art der Entlohnung jedoch nur "bread and soup after work" angegeben hat und trotz seiner Angabe gegenüber der Claims Conference, "we were not paid for the job" glaubhaft im Sinne überwiegender Wahrscheinlichkeit.

Die vermeintlichen Widersprüche erklären sich dadurch, dass der Kläger Lebensmittelmarken nicht deutlich sichtbar von seinem Arbeitgeber als Gegenleistung erhalten hat, sondern dass das Entgelt über den Judenrat und auch- zumindest teilweise - nicht in bar ausgezahlt wurde.

Wenn der Kläger wie viele andere Verfolgte ursprünglich im Rentenverfahren angegeben hatte, er habe für seine Arbeit nur Brot und Suppe als Gegenleistung erhalten und auch im Klageverfahren angibt, lediglich zusätzliche Lebensmittelkarten erhalten zu haben, ist dabei zu beachten, dass es

" für viele ehemals Verfolgte mit einem Verrat an ihrem eigenen Opfersein und damit an allen Opfern des Holocaust gleichzusetzen ist, wenn ihre Anspruchsberechtigung nach dem ZRBG allein davon abhängt, in welchem Umfang sie bereit sind zuzugeben, ihr Verfolgungsschicksal selbst aktiv mitgestaltet zu haben, indem sie ein "Entgelt" entgegengenommen oder sich "freiwillig" zu irgendeiner Beschäftigung gemeldet haben",(zitiert nach einem Brief des Presidente Honorario Association Israelita de Sobreviventes de la Persecucion Nazi José Moskowitz u.a. an die Präsidentin des Sozialgerichts Hamburg vom 20.06.2006)" .

Hinzu kommt, dass nach allen der Kammer bekannten Schilderungen das Entgelt als Gegenleistung der Arbeit zwar wichtig war, weil es über erhöhte Rationen den Lebensunterhalt der ganzen Familie sichern musste. Daneben war jedoch der durch Arbeit bestehende (vermeintliche) Schutz vor Deportation, den die Arbeit, die Arbeitskarten usw. darstellten, zu berücksichtigen, der subjektiv wichtiger war als die materielle Gegenleistung.

Es besteht zur Überzeugung der Kammer nach den zur Verfügung stehenden historischen Quellen, insbesondere dem Prof. Dr. G2- Gutachten und nach dem Gutachten von Dr. F. eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger ein solches Entgelt, wie von ihm behauptet, und möglicherweise darüber hinaus auch Entgelt in bar tatsächlich erhalten hat.

Im Gutachten von Professor Dr. G2 heißt es auf Seite 19/20 unter Verweis auf Szternfinkiel, a.a.O.Seite 33-34 und Sybille Steinbacher, a.a.O., Seite 152:

"Der Arbeitslohn wird von mit 20 bis 35 RM im Monat angegeben, amtliche Dokumente der Wirtschaftskammer Oberschlesien nennen für Oktober 1942 für Männer in Schneiderwerkstätten 70 RM, für Frauen 50 RM monatlich, was etwa der Hälfte der Tariflöhne für Deutsche entsprach. Der Regierungspräsident von Kattowitz sah für " die in Frage kommenden Arbeitsgebiete (z. B. Maler, Schneider, Tapezierer, Tiefbauarbeiter, Kräfte für den Hausarbeiter- und Reinmachdienst usw.) " die Vergütung nach den geltenden Tarifen bzw. "im sonst ortsüblichen Rahmen " vor. Die Organisation Schmelt beanspruchte davon 30 % Lohnabzug für eine "Aufbaukasse", diesen Betrag hatten die Firmen neben den "eingesparten Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteilen von 18 %" auf das Schmelt- Konto zu überweisen. Der restliche Lohn sollte ohne weitere Abzüge direkt an die jüdischen Arbeiter ausgezahlt werden. Theoretisch wäre damit auch ein Abzug an die Judenräte unmöglich. Die faktische Durchführung mag jedoch über die Judenräte gelaufen und anders gewesen sein.


.....Mit einem Erlass vom 23. Februar 1941 unterstellte der Regierungspräsident von Kattowitz auch die bei Behörden und öffentlichen Betrieben beschäftigten Juden des "Oststreifens" der Aufsicht der Schmelt- Dienststelle. Bis dahin hatten offensichtlich Behörden und andere öffentlicher Arbeitgeber Juden relativ unbehindert für "Notstandsarbeiten", aber auch in Dauerstellen beschäftigt. Der Regierungspräsident ordnete einen Tageslohn von 3,50 RM an, von dem nur -,60 RM (also nur ca. 17 %) an die Dienststelle Schmelt gezahlt werden sollten. Den Judenräten, die die verbleibenden 2,90 RM auszahlen sollten, wurde verboten, hiervon Abzüge von mehr als -,10 RM vorzunehmen. "

Weiter heißt es im Gutachten von Professor Dr. G2 auf Seite 29:

" Die Lohnausschüttungen in den Shops dürften angesichts der Verpflegung der Arbeitenden an den Arbeitsstellen auch dafür ausgereicht haben, einige nicht arbeitende Familienmitglieder zu verpflegen. Zur Versorgung mit Nicht- Nahrungsmitteln liegen kaum Angaben vor, allerdings soll die Versorgung relativ etwas besser als in den Ghettos des Generalgouvernements gewesen sein....."

Nach alledem steht für die Kammer fest, dass jedenfalls während des hier streitigen Zeitraums ab Mai 1941 Tätigkeiten, wie sie der Kläger für Behörden erbracht hat, der Organisation Schmelt unterstellt waren und entgeltlich erbracht wurden. Lediglich die Frage, inwieweit nur Teile der Lohnansprüche an die Arbeiter direkt ausgezahlt wurden, während andere Teile des Entgelts von den Judenräten dazu verwendet wurde, eine Infrastruktur im Ghetto zu errichten und aufrecht zu erhalten, die ein Überleben aller sichern sollte, dürfte sich trotz der Anordnungen des Regierungspräsidenten in den einzelnen Ghettos unterschieden haben.

Die Auszahlung von lediglich Teilen des zu beanspruchenden Entgelts ähnelt in gewisser Weise den Verhältnissen in Kolchosen, für die trotzdem kein Zweifel am Lohn des jeweils Einzelnen nach gefestigter Rechtsprechung besteht ( vgl. hierzu BSG 13 RJ 17/92 vom 31.03.1993 und BSG 13 RJ 19/97).

Darüber hinaus kommt es nach Auffassung der Kammer letztlich nicht darauf an, ob der Kläger den ihm zustehenden Lohn tatsächlich (in bar und vollständig) erhalten hat. Denn er hatte hierauf auf jeden Fall nach den geltenden Rechtsvorschriften einen Anspruch. Im Gutachten von Dr. B1 F. heißt es hierzu zunächst auf Seite 6 unter Verweis auf Anlage 9 hinzu:

" Wie für alle Angehörigen des Deutschen Reiches und Volksdeutsche wurde auch das Arbeitsrecht für Juden in den eingegliederten Ostgebieten mit konkreten Erlassen, Verordnungen, Tarifen, Tabellen und sonstigen Weisungen festgeschrieben. Mit Wirkung vom 1.9.1939 wurden alle früheren Arbeits- und Lohnverträge aufgehoben; Löhne und Gehälter um 10 v.H. gekürzt."

und auf Seite 13 unter Verweis auf Anlage 27:

" Jüdische Arbeitnehmer wurden nach Tariflohn bezahlt. Der im Jahre 1939 eingeführte allgemeine Lohnabschlag von 10 % änderte sich durch die Einführung von Lohngruppen und Festsetzung der so genannten "Polenabgabe" (15 %). Rückwirkend zum 1.1.1940 wurden Ortslöhne für gewöhnliche Tagarbeiter herausgegeben. Bei den ab 1.1.1942 gültigen Ortslöhnen wurde der Lohn für Schutzangehörige und Staatenlose polnischen Volkstum um 20 v. H. unter den angegebenen Sätzen festgeschrieben. Für polnische und jüdische Arbeitnehmer hat der Reichsminister der Finanzen mit Erlass vom 20.9.1941 Tabellen für die Lohnsteuer und Sozialabgabe für monatliche, wöchentliche, tägliche und vierstündliche Lohnzahlung herausgegeben."

Nach weiteren Angaben von Dr. B1 F. zur Entlohnung auf den folgenden Seiten seines Gutachtens heißt es auf Seite 16/17 konkret für die (wie der Kläger) bei Behörden und öffentlichen Betrieben beschäftigten jüdischen Arbeitskräfte unter Hinweis auf den Erlass des Oberpräsidenten von Kattowitz vom 23.2.1941, der als Anlage 16 abgedruckt ist, dass

" von dieser (tariflichen oder ortsüblichen) Vergütung neben etwaiger Lohn-Bürgersteuer 30 % in Abzug zu bringen und dem Sonderbeauftragten zuzuführen sind ";

die Auszahlung des nach Abzug der genannten Steuern und des 30 % verbleibenden Betrages nur anhand von Zahllisten, beim Sonderbeauftragten anzufordern, direkt an die Judenarbeiter zu erfolgen hat"."

Im übrigen ist es auch außerhalb der Beurteilung von Beschäftigungsverhältnissen mit einem zwangsweisen Aufenthalt im Ghetto für die Entstehung rentenrechtlicher Zeiten nicht zwingend notwendig, dass tatsächlich ein Entgelt gezahlt worden ist. So reicht es z.B. bei verlorenen oder untergegangen Versicherungsunterlagen aus, wenn der Betroffene glaubhaft macht, dass er eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt und hiervon Beiträge zur Rentenversicherung einbehalten worden sind (§ 203 Abs. 2 SGB VI bzw. § 1423 Reichsversicherungsordnung, RVO).

Auch nach der heute im Beitragsrecht zur Sozialversicherung (für Fallgestaltungen, die mit Beschäftigungen im Ghetto nichts zu tun haben) geltenden ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kommt es auf das tariflich zustehende (geschuldete) und nicht lediglich auf das zugeflossene Arbeitsentgelt an (BSG vom 14.7.2004 m.w.N., B 12 KR 1/04 R und BSG B 12 KR 10/03 R).

Nach alledem hat der Kläger eine entgeltliche Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss im Ghetto Wadowice in der Zeit von Mai 1940 bis Oktober 1943 ausgeübt.

2. Die vom Kläger im Ghetto Wadowice zurückgelegte Zeit, für die Beiträge nach § 2 Abs. 1 ZRBG als gezahlt gelten, ist auf die Wartezeit anrechenbar als Beitragszeit im Sinne des § 55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI.

In § 2 Abs. 1 ZRBG wird festgelegt, dass Zeiten, die Verfolgte in Ghettos zurückgelegt haben und die den Anforderungen nach § 1 ZRBG entsprechen, als Beitragszeiten gelten. Weitere Voraussetzungen bestehen nicht. Ebenfalls spricht für diese Auslegung der Wortlaut des § 2 Abs. 1 ZRBG, in dem im Wege einer Legaldefinition eine Ghetto- Beitragszeit definiert wird, für die Beiträge als gezahlt gelten.

Eine Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis bedarf es hier zur Anrechnung von Beitragszeiten nach dem ZRBG schon deshalb nicht, weil in den eingegliederten Gebieten wie Oberschlesien grundsätzlich Versicherungspflicht nach der RVO (mit bestimmten als nationalsozialistisches Unrecht zu vernachlässigenden und über die Vorschriften des WGSVG beseitigten Ausnahmen für die jüdische Bevölkerung) bestand. Dort bedurfte es für die Anrechenbarkeit der Zeit in der deutschen Rentenversicherung regelmäßig keiner Zugehörigkeit zum dSK.

3. Der Kläger bezieht für diese Zeit nicht bereits eine Leistung aus einem anderen System der sozialen Sicherung. Dies sind nach der Gesetzesbegründung (Bundestagsdrucksache 14/8583) zu § 1 Abs.1 Satz 2 ZRBG ausländische soziale Sicherungssysteme, insbesondere Rentenversicherungen im Herkunfts- bzw. Wohnlandes des Verfolgten. Hier sind keinerlei Gesichtspunkte erkennbar, dass der Kläger aus Polen oder den USA entsprechende Leistungen für dieselben Verfolgungszeiten erhält.

Leistungen nach dem ZRBG sind für ihn auch nicht deswegen ausgeschlossen, weil er Zahlungen über die Claims Conference aus der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" erhalten hat.

Das Bundessozialgericht hat hierzu in seiner Entscheidung B 12 RJ 1/05 betreffend Nachentrichtungsrechte von so genannten Ostarbeitern in der gesetzlichen Rentenversicherung unter Hinweis auf die Begründung des fraktionenübergreifenden Entwurfs des EVZStiftG, BT-Drucks 14/3206, S 10, 17 und die Beschlussempfehlung und den Bericht des Innenausschusses <4. Ausschuss>, BT-Drucks 14/3758, S 1 ausgeführt: "Die vorgesehenen Zahlungen nach dem Stiftungsgesetz (EVZStiftG) sollen Finanz- und Symbolwert haben und eine abschließende vermögensrechtliche Bewältigung dieser Folgen nationalsozialistischen Unrechts darstellen....Die Einmalleistungen nach dem EVZStiftG sollen die bisherigen Wiedergutmachungsleistungen lediglich "ergänzen ". Soweit sie explizit auch sozialversicherungsrechtliche Sachverhalte erfassen, stellen die Regelungen des EVZStiftG eine abschließende - entschädigungsrechtliche - Lösung der Wiedergutmachungsfrage dar. Indessen hat der Gesetzgeber das Konzept des Art 6 § 23 FANG als einer ihrerseits abschließenden rentenrechtlichen Wiedergutmachungsregelung mit dem EVZStiftG nicht aufgeben wollen."

Für die Kammer ergibt sich daraus eindeutig, dass eine Leistung aus einem anderen System der sozialen Sicherung im Sinne des ZRBG mit einer " Finanz- und Symbolwert" darstellenden Zahlung nach dem Stiftungsgesetz nicht gemeint sein kann.

II.

Neben der Ghettobeitragszeit sind auf die Wartezeit beim Kläger verfolgungsbedingte Ersatzzeiten nach § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI anzurechnen.

Gem. § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI sind Ersatzzeiten u.a. Zeiten vor dem 01.01.1992, in denen Versicherungspflicht nicht bestanden hat und in denen Versicherte, die das 14. Lebensjahr vollendet haben und Verfolgte im Sinne des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes sind, "in ihrer Freiheit eingeschränkt gewesen oder ihnen die Freiheit entzogen worden ist (§§ 43 und 47 Bundesentschädigungsgesetz)".

Ghetto- Beitragszeiten gelten als Beitragszeiten für eine Beschäftigung und haben die gleiche Wirkung wie Pflichtbeitragszeiten. Der Kläger ist Versicherter in diesem Sinne durch Anrechnung der Ghetto- Beitragszeit.

Gem. § 43 Abs. 1 Satz 1 2 BEG hat der Verfolgte Anspruch auf Entschädigung, wenn ihm in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 08. Mai 1945 die Freiheit entzogen worden ist, wobei gemäß § 43 Abs. 2 BEG Freiheitsentziehung im Sinne dieser Vorschrift insbesondere polizeiliche oder militärische Haft, Inhaftnahme durch die NSDAP, Untersuchungshaft, Strafhaft, Konzentrationslagerhaft und Zwangsaufenthalt in einem Ghetto sind.

Nach § 43 Abs. 3 BEG ist der Freiheitsentziehung das Leben unter haftähnlichen Bedingungen, Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen und Zugehörigkeit zu einer Straf- oder Bewährungseinheit der Wehrmacht gleichgestellt.

Gem. § 47 Abs. 1 BEG hat der Verfolgte Anspruch auf Entschädigung, wenn er in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 08. Mai 1945 den Judenstern getragen oder unter menschenunwürdigen Bedingungen in der Illegalität gelebt hat.


Ersatzzeiten nach § 250 Abs. 1 Ziffer 4 SGB VI sind im Fall des Klägers die von den Entschädigungsbehörden anerkannte Zeit vom Beginn des Zwangs zum Tragen des Judensterns ab 01.01.1940 sowie die Zeit nach dem Aufenthalt im Ghetto bis zur Befreiung durch die Rote Armee im Februar 1945, während derer der Kläger in seinem Versteck in Gorzen lebte sowie die Zeit des verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts von September 1949 (Auswanderung des Klägers nach USA) bis 31.12.1949. Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung am 09.02.2006 anerkannt, dass diese Ersatzzeittatbestände erfüllt sind.

Mit diesen Zeiten erfüllt der Kläger auch ohne die bisher nicht geklärten amerikanischen Zeiten, die nach dem deutsch- amerikanischen Sozialversicherungsabkommen ebenfalls auf die Wartezeit für eine Altersrente nach §§ 50 Abs. 1 Nr. 1, 51 Abs. 1 und Abs. 4 SGB VI anrechenbar sind, die Wartezeit für eine solche Rente.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und trägt dem Obsiegen und Unterliegen der Beteiligten Rechnung.