Az. S 10 RA 6710/04
SG Berlin Urteil vom 19. Mai 2008 Az. S 10 RA 6710/04
Urteil
1. Ein Ghetto im Sinne von § 1 Abs Abs 1 ZBRG ist eine Stadt, ein Stadtteil oder ein Stadtviertel, wo die jüdische Bevölkerung im Wege der Absonderung, Konzentration und Internierung untergebracht wurde (vgl. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteile vom 15.12.2006 -L 12 RJ 112/04- und vom 28.01.2008 -L 8 RJ 139/04-); hierzu zählen insbesondere auch nicht eingezäumte offene Ghettos und Ghettos, in denen auch Menschen lebten, deren Wohnsitznahme nicht auf den Ghettobereich beschränkt war.2. Bendzin war im (vorliegend streitigen) Zeitraum von Juli 1940 bis Februar 1942 ein Ghetto in diesem Sinne:Eine Absonderung, deren wesentliches Element die Zuweisung bestimmter Wohngebiete für die jüdischer Bevölkerung ist, lag jedenfalls ab dem 1. Juli 1940 vor. Bereits 1939/1940 erfolgte eine Festlegung bestimmter Straßenzüge als jüdische Wohnbezirke, dies zum Teil in bereits bestehenden jüdischen Wohnvierteln, die fortlaufend verkleinert wurden. Es wurden nicht nur erste Umsiedlungsaktionen durchgeführt, sondern auch bereits seit 1939 eine Polizeistunde für Juden eingeführt. Bereits seit 1940 durften Juden die Hauptstraßen nicht mehr und die Straßenbahnen nur in bestimmten abgrenzten Bereichen benutzen, und es bestand bereits Ende 1939 eine Verpflichtung der jüdischen Bevölkerung, eine Kennzeichnung zu tragen. Darüber hinaus wurde seit 1940 die jüdische Bevölkerung (unter anderem) in Bendzin als Zielgebiet des Abschubs von Juden aus anderen Regionen in bestimmten, als jüdische Wohnbezirke festgelegten Straßenzügen zusammengefasst, die ständig verkleinert wurden. Aufgrund der tatsächlichen Lebens- und Wohnsituation - Wohnraumverknappung, Sperrstunden etc. - lagen internierungsähnliche Umstände vor. 3. Der "zwangsweise Aufenthalt" ist nach der Systematik des ZBRG auf den Einzelfall bezogen und unabhängig vom Ghetto-Begriff.4. Mit dem ZBRG ist eine wesentliche Änderung der rechtlichen Verhältnisse im Sinne von § 48 Abs 1 SGB 10 für die betroffenen Versicherten eingetreten, und Bestandsrentner sind nach Sinn und Zweck des ZBRG nicht "von der Rechtswohltat des ZBRG auszugrenzen" (BSG, Urteil vom 3.5.2005 -B 13 RJ 34/04 R).
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 26. April 2004 in Gestalt desWiderspruchsbescheides vom 10. November 2004 wird abgeändert. DieBeklagte wird verurteilt, den Bescheid der Beklagten vom 30.Oktober 1996 abzuändern und der Klägerin als Rechtsnachfolgerin derverstorbenen N B ab dem 1. Juli 1997 bis zum 30. April 2005 höhereRegelaltersrente unter Zugrundelegung von Ghetto-Beitragszeiten imSinne von § 2 Abs. 1 ZRBG für den Zeitraum vom 1. Juli 1940 bis zum15. Februar 1942 zu gewähren.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin 2/3 ihrer außergerichtlichenKosten zu erstatten. Im Übrigen haben die Beteiligten einanderkeine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Berücksichtigung von Ghettobeitragszeiten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten (ZRBG) vom 01. Juli 1940 bis zum 15. Februar 1942 bei der Berechnung der Regelaltersrente der Versicherten Frau N B sowie das Ende des belegungsfähigen Gesamtzeitraums und eine entsprechend höhere Rentenzahlung.
Die Versicherte ist Verfolgte i.S.d. Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Sie war 1938 aus Deutschland zwangsausgewiesen und nach Polen deportiert worden, wo ihr das jüdische Komitee in Bendzin eine Wohnung zugewiesen hatte. Bis Februar 1942 lebte sie dort. Danach war sie in ein Arbeitslager und anschließend in ein KZ gekommen.
Mit Bescheid vom 02. Januar 1995, geändert durch Bescheid vom 13. November 1995 und vom 30. Oktober 1996, gewährte die Beklagte der Versicherten Regelaltersrente ab dem 01. Februar 1994 mit 1,1535 persönlichen Entgeltpunkten. Der hier streitige Zeitraum vom Juli 1940 bis Februar 1942 war in diesem Bescheid als
Ersatzzeit („NS-Verfolgung“)
berücksichtigt und als Ende des belegungsfähigen Gesamtzeitraumes der 31.01.1994 angesetzt.
Am 01. August 2002 stellte die Versicherte einen Antrag auf Rentengewährung gem. ZRBG und einen Antrag auf Überprüfung des Rentenbescheides vom 30. Oktober 1996 hinsichtlich des belegungsfähigen Gesamtzeitraums. Sie habe bereits ab 01. November 1987 Rentenzahlung verlangen können, so dass der belegungsfähige Gesamtzeitraum mit Oktober 1987 und nicht erst im Januar 1994 ende.
Daraufhin stellte die Beklagte mit Bescheid vom 26. April 2004 die Rente ab 01. Januar 1998 neu fest mit 8,9060 bis zum 30.06.2000 und anschließend mit 8,9174 persönlichen Entgeltpunkten. Den streitigen Zeitraum 01.07.1940-15.02.1942 berücksichtigte sie nunmehr als
„Pflichtbeitragszeit“
gem. Fremdrentengesetz (FRG) anstatt als Ersatzzeit. Eine Anwendung des ZRBG lehnte sie jedoch ab, da bereits vor dessen In-Kraft-Treten eine Rente bezogen wurde. Sie lehnte ebenfalls eine Änderung des belegungsfähigen Gesamtzeitraumes ab.
Hiergegen legte die Versicherte am 10. Mai 2004 Widerspruch ein. Sie habe bereits am 05.10.1987 das 65. Lebensjahr vollendet und daher ende der belegungsfähige Gesamtzeitraum mit Ablauf des Monats Oktober 1987. Zudem rügte sie die Nichtanwendung des ZRBG. Sie habe nicht nur einfach einen Überprüfungsantrag gestellt. Sie habe einen Antrag auf Rente gem. ZRBG gestellt.
Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10. November 2004 als unbegründet zurück.
Mit ihrer am 07. Dezember 2004 zum Sozialgericht Berlin erhobenen Klage verfolgt die Versicherte ihr Begehren weiter. Nach dem Gutachten von Prof. Dr. G vom 10.11.2005, welches sie in das Verfahren einführe, wurde laut „Informator“ im Juli 1940 in Bendzin ein Ghetto errichtet.
Die Versicherte ist am 19.05.2005 verstorben. Der Prozess wird nunmehr von ihrer Tochter weitergeführt.
Die Klägerin beantragt:
Der Bescheid der Beklagten vom 26. April 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 2004 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, den Bescheid der Beklagten vom 30. Oktober 1996 abzuändern und
1. der Klägerin als Rechtsnachfolgerin der verstorbenen N B ab dem 1. Juli 1997 bis zum 30. April 2005 höhere Regelaltersrente unter Zugrundelegung von Ghetto-Beitragszeiten im Sinne von § 2 Abs. 1 ZRBG für den Zeitraum vom 1. Juli 1940 bis zum 15. Februar 1942 zu gewähren sowie
2. das Ende des belegungsfähigen Gesamtzeitraumes auf den 31. Oktober 1987 zu legen und der Klägerin als Rechtsnachfolgerin der verstorbenen N B ab 1. Januar 1998 bis zum 30. April 2005 entsprechend höhere Regelaltersrente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte ist der Ansicht, eine Ghetto-Beitragszeit gem. ZRBG läge nicht vor, da vor Oktober 1942 kein Ghetto i.S.d. ZRBG vorläge. Sie legt ein Gutachten von A B vom 31.12.2002 vor, wonach man frühestens ab Herbst 1942 als Errichtungszeitpunkt der Ghettos sprechen könne. Wenn sich ergäbe, dass in Ost-Oberschlesien bereits vor diesem Zeitraum Ghettos bestanden, käme eine entsprechende Neufeststellung der Rente in Betracht. Hinsichtlich des belegungsfähigen Gesamtzeitraums verweist sie auf das Urteil des BSG vom 17.04.2007, Az. B 5 RJ 15/04 R.
Das Gericht hat das historische Gutachten von Dr. B vom 31.01.2008 zum Ghetto Bendzin zur Akte genommen sowie den Beteiligten ausgehändigt.
Bezüglich des weiteren Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten sowie auf die o.g. drei historischen Gutachten verwiesen. Die Akten und Gutachten lagen der Kammer vor und wurden zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung gemacht.
Gründe
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und in dem sich aus dem Tenor ergebenden Umfang auch begründet.
1. Soweit die Beklagte im streitgegenständlichen Bescheid eine Abänderung des Rentenbescheides vom 30. Oktober 1996 und eine Gewährung höherer Regelaltersrente ab dem 1. Juli 1997 bis zum 30. April 2005 unter Zugrundelegung von Ghetto-Beitragszeiten im Sinne von § 2 Abs. 1 ZRBG für den Zeitraum vom 1. Juli 1940 bis zum 15. Februar 1942 ablehnt, ist der Bescheid rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat einen Anspruch auf entsprechende Abänderung des Rentenbescheides vom 30. Oktober 1996 gem. § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 Zehntes Sozialgesetzbuch (SGB X) und Gewährung einer entsprechenden Rente ab 01. Juli 1997.
Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 S. 1 und 2 Nr. 1 SGB X liegen vor. Die Verhältnisse, die bei Erlass des Regelaltersrentenbescheides der Versicherten, einem Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, im Jahr 1996 vorgelegen haben, haben sich nachträglich mit Erlass des ZRBG 2002 und ihrem 2002 gestellten Antrag auf Renten gem. ZRBG konkret zu ihren Gunsten geändert.
Eine konkrete Änderung liegt für die Versicherte vor, da sie bei Antragstellung bis zum 30. Juni 2003 gem. § 3 Abs. 1 ZRBG rückwirkend ab dem 01.07.1997 Anspruch auf höhere Regelaltersrente hat, als ihr von der Beklagte zuvor gezahlt, und sie 2002 auch einen entsprechenden Antrag gestellt hat.
a) Der hier streitige Zeitraum vom 01. Juli 1940 bis zum 15. Februar 1942 ist Ghetto-Beitragszeit i.S.d. § 2 Abs. 1 ZRBG.
Gem. § 1 Abs. 1 ZRBG liegt eine Ghetto-Beitragszeit vor, wenn die Verfolgten sich zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten haben, das in einem vom Deutschen Reich besetzten oder ihm eingegliederten Gebiet gelegen hat und dort eine Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss gegen Entgelt ausgeübt haben. Ferner darf für die betreffenden Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht werden. Die Anspruchsvoraussetzungen müssen glaubhaft gemacht werden (§ 1 Abs. 2 ZRBG i.V.m. § 3 Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG)). Glaubhaft gemacht ist eine Tatsache, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche verfügbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist, d.h. mehr für als gegen sie spricht, wobei gewisse noch verbleibende Zweifel unschädlich sind (vgl. BSG, Beschluss vom 8.8.2001, B 9 V 23/01 B).
Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
aa) Hinsichtlich des Vorliegens der Anspruchsvoraussetzungen des ZRBG, dass die Versicherte
im streitgegenständlichem Zeitraum eine Beschäftigung ausgeübt hat, die beide in § 1 Abs. 1 Nr. 1 ZRBG genannte Voraussetzungen erfüllt hat, nämlich das Zustandekommen aus eigenem Willensentschluss gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) ZRBG und die Ausübung gegen Entgelt gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b) ZRBG,
besteht zwischen den Beteiligten Übereinstimmung. Die Beklagte hat in dem Rentenbescheid vom 26. April 2004 die hier streitige Zeit als Pflichtbeitragszeit im Versicherungsverlauf festgestellt. Damit hat die Beklagte das Vorliegen eine versicherungspflichtige Beschäftigung und damit eine Ausübung einer Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss gegen Entgelt i.S.d. § 1 Abs. 1 ZRBG anerkannt; denn der Begriff versicherungspflichtige Tätigkeit beinhaltet auch eine Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss gegen Entgelt i.S.d. § 1 Abs. 1 ZRBG (vgl. vielmehr zu der Frage, ob hier geringere Anforderungen zu stellen sind als eine versicherungspflichtige Beschäftigung BSG, Urt. v. 20.07.2005, Az. B 13 RJ 37/04 R und BSG, Urt. v. 14.12.2006, Az. B 4 R 29/06 R).
Es ist glaubhaft gemacht, dass die Versicherte, eine Verfolgte i.S.d. BEG, sich während der hier streitigen Zeit auch zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten i.S.v. § 1 Abs. 1 ZRBG.
34bb) Ein Ghetto i.S.d. Vorschrift ist eine Stadt, ein Stadtteil oder ein Stadtviertel, wo die jüdische Bevölkerung im Wege der Absonderung, Konzentration und Internierung untergebracht wurde (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 15.12.2006, Az. L 13 RJ 112/04 und Urt. v. 28.01.2008, Az. L 8 RJ 139/04, veröffentlich sozialgerichtsbarkeit.de). Die Kammer schließt sich damit der Auffassung des LSG Nordrhein-Westfalen in den genannten Urteilen zur Auslegung des Begriffs Ghetto an. Insbesondere hält die Kammer auch nicht eingezäunte offene Ghettos und Ghettos, in denen auch Menschen lebten, deren Wohnsitznahme nicht auf den Ghettobereich beschränkt waren, für Ghettos i.S.d. ZRBG. Das ergibt sich als Gegenschluss aus dem Relativsatz des § 1 Abs. 1 ZRBG „die sich dort zwangsweise aufgehalten haben“. Daraus folgt, dass nach der Vorstellung des Gesetzgebers es auch Menschen gegeben haben kann, die sich freiwillig in einem Ghetto i.S.d. ZRGB aufgehalten haben.
Bendzin war im streitigen Zeitraum von Juli 1940 bis Februar 1942 ein Ghetto in diesem Sinne. Zu dieser Überzeugung ist die Kammer auf Grundlage der historischen Gutachten von Prof. G vom 10.11.2005 zur Region Oberschlesien und von Dr. B vom 31.01.2008 unter Berücksichtigung des Gutachtens von A B vom 31.12.2002 gelangt. Der Auffassung von Gutachter B in seinem Gutachten von 2002 folgt die Kammer nicht, da zum einen die Lage der Juden in Ostoberschlesien erst in letzter Zeit (so die Aussage von Prof. G in seinem Gutachten 2005) die Situation eingehender erforscht wurde und dieser zum anderen Ghetto-Begriff der NS-Machthaber verwendet (vgl. SG Düsseldorf Urt. v. 15.09.2004, Az. S 39 RJ 28/01). Vielmehr hält die Kammer das ausführliche und unter Beachtung der aktuellsten Forschungsergebnisse sorgfältig ausgearbeitete Gutachten von Prof. G von 2005 für überzeugend und zieht ergänzend das ebenfalls sorgfältig ausgearbeitete und begründete und auch Bewertungsspielräume und Unsicherheiten bzw. Wahrscheinlichkeiten aufzeigende Gutachten von Dr. B von 2008 heran, soweit dieses weitere neue Informationen zu Bendzin enthält.
Eine Absonderung, deren wesentliches Element die Zuweisung bestimmter Wohngebiete für die jüdische Bevölkerung ist (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 15.12.2006, Az. L 13 RJ 112/04), lag jedenfalls ab dem 01. Juli 1940 vor. Anders als das LSG Nordrhein-Westfalen in seinem Urteil vom 15.12.2006 zum Ghetto Bendzin hält die Kammer eine Absonderung nicht erst ab dem formalisierten „Judenbann“ 1941 für gegeben. Dem Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen lag das Gutachten von Prof. G von 2005 zugrunde. Aus dem Gutachten von Dr. B von Januar 2008 ergibt sich, dass bereits 1939/1940 eine Festlegung bestimmter Straßenzüge als jüdische Wohnbezirke erfolgte z.T. in bereits bestehenden jüdischen Wohnvierteln, die fortlaufend verkleinert wurden, und nicht nur erste Umsiedlungsaktionen durchgeführt wurden, sowie dass bereits 1939 eine Polizeistunde für Juden eingeführt worden war. Wie sich aus dem Gutachten von Prof. Golczewski ergibt, durften Juden bereits 1940 die Hauptstraßen nicht mehr und die Straßenbahnen nur in bestimmten abgegrenzten Bereichen benutzen und bestand bereits Ende 1939 eine Verpflichtung der jüdischen Bevölkerung, eine Kennzeichnung zu tragen. Erst 1941 mit Formalisierung des „Judenbanns“ per Verordnung im Frühjahr 1941 von einer Absonderung und damit von einem Ghetto in Bendzin auszugehen, erscheint der Kammer zu spät. Der formale Judenbann ist wie das spätere immer weitere Verkleinern der als jüdische Wohnbezirke festgelegten Straßenzüge lediglich eine laufende Verschärfung der bereits existierenden Absonderung. So stützt das LSG Nordrhein-Westfalen sich im Wesentlichen auch darauf, dass erst 1941 ein „zwangsweiser Aufenthalt“ i.S.d. ZRBG möglich war. Diese Voraussetzung ist vom Ghetto-Begriff zu trennen und gesondert zu prüfen. Wäre der zwangsweise Aufenthalt bereits Inhalt des Ghetto-Begriffs des ZRBG, wäre der Relativsatz überflüssig (zum zwangsweisen Aufenthalt s.u. Punkt 1.a.cc).
Eine Konzentration (vgl. zu diesem Begriff LSG Nordrhein-Westfalen a.a.O.) der jüdischen Bevölkerung existierte ebenfalls jedenfalls ab Juli 1940. Wie sich auch aus dem Verfolgungsschicksal der Versicherten ergibt, die 1938 nach Polen ausgesiedelt und in Bendzin untergebracht wurde (Erklärung der Versicherten von Juni 2003), wurde die jüdische Bevölkerung u.a. in Bendzin zusammengefasst als Zielgebiet des Abschubs von Juden aus anderen Regionen (s. Gutachten von Prof. G), seit 1940 in bestimmten, als jüdische Wohnbezirke festgelegten Straßenzüge, die ständig verkleinert wurden (s. Gutachten von Dr. B).
Internierungsähnliche Umstände (vgl. zu diesem Begriff LSG Nordrhein-Westfalen a.a.O.) aufgrund der tatsächlichen Lebens- und Wohnsituation – Wohnraumverknappung, Sperrstunden, etc. – sind ebenfalls spätestens ab Juli 1940 dokumentiert. So heißt es bereits im Gutachten von B von 2002, dessen Gutachten der formale Ghetto-Begriff des NS-Regimes zugrunde liegt, dass de facto die Zustände aufgrund der Wohnraumverknappung als Gettoisiert empfunden werden mussten. Sogar der amtliche Sprachgebrauch bereits Anfang 1940 verwendete für die Wohngebiete offenbar den Begriff „Ghetto“ (Gutachten von Prof. G). Entsprechend wird auch in der Literatur betreffend Bendzin – anders als z.B. im Fall S – seit 1940 von einem Ghetto gesprochen (Gutachten von Prof. G).
39cc) Die Versicherte hat sich in der hier relevanten Zeit auch zwangsweise im Ghetto aufgehalten i.S.d. ZRBG, da sie sich an diesem Ort befand und mindestens seit Juli 1940 nicht mehr frei wählen konnte, wo sie leben wollte.
Zu dieser Überzeugung gelangt die Kammer aufgrund der Tatsache, dass die Klägerin bereits 1938 aus Deutschland zwangsausgewiesen wurde (vgl. Bescheinigung der Hauptstadt Wiesbaden aus September 1958) und nach Polen deportiert wurde (vgl. eidesstattliche Erklärung der Versicherten) und seitdem bis zum 15,. Februar 1942 vom jüdischen Komitee untergebracht tatsächlich in Bendzin gelebt (vgl. Erklärung der Versicherten aus Juni 2003).
Die Kammer folgt insoweit nicht dem LSG Nordrhein-Westfalen, welches in seinem Urteil vom 15.12.2006 zum Ghetto Bendzin generell einen zwangsweisen Aufenthalt im Ghetto Bendzin erst ab dem formalen „Judenbann“ 1941 für möglich hält. Damit macht das LSG Nordrhein-Westfalen den zwangsweisen Aufenthalt indirekt zum Inhalt des Ghettobegriffs, obwohl der „zwangsweise Aufenthalt“ nach der Systematik des ZRBG auf den Einzelfall bezogen und unabhängig vom Ghetto-Begriff ist.
Damit hat die Versicherte Ansprüche aus dem ZRBG.
43Mit dessen Erlass haben sich die Verhältnisse, die bei Erlass des Regelaltersrentenbescheides 1996 vorgelegen haben, für den Rentenanspruch der Versicherten nachträglich mit Erlass des ZRBG 2002 zu ihren Gunsten geändert; denn aufgrund ihres 2002 gestellten Antrags hat sie aufgrund des ZRBG Anspruch auf höhere Leistungen rückwirkend ab dem 01.07.1997.
b) Diese Änderung ist auch wesentlich i.S.v. § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X; denn sie ist rechtserheblich (vgl. BSGE 59,111), weil sie der Versicherten tatsächlich einen über den bisherigen Anspruch hinausgehenden Leistungsanspruch gibt.
Nach Ansicht der Kammer kommt es für eine Bewertung dieser Änderung als rechtserheblich und damit wesentlich i.S.v. § 48 Abs. 1 SGB X auf die tatsächliche Situation der Versicherten hinsichtlich ihrer Ansprüche gegen die Beklagte im Zeitpunkt des ZRBG-Erlasses 2002 an. Zu vergleichen ist die tatsächliche Situation der Versicherten direkt vor der Veränderung, hier Erlass des ZRBG und Antrag der Versicherten hierzu im Jahr 2002, mit ihrer tatsächlichen Situation hinsichtlich ihrer Ansprüche gegen die Beklagte direkt nach der Veränderung.
Entscheidend ist, dass die im Jahr 2002 bestehende tatsächliche Situation der Versicherten sich durch den ZRBG-Erlass 2002 dahingehend ändert, dass sie ihr einen weiteren Leistungsanspruch gibt, den sie bisher nicht hatte. Bis zum Erlass des ZRBG hatte die Versicherte 2002 aufgrund der Bestandskraft des Rentenbescheides von 1996 lediglich die Möglichkeit, einen Überprüfungsantrag gem. § 44 SGB X zu stellen mit dem Ziel, dass der Zeitraum vom 01.07.1940-15.02.1942 als Pflichtbeitragszeit gem. WGSVG bewertet nach dem FRG berücksichtigt und ihr gem. § 44 Abs. 4 SGB X eine entsprechend höhere Renten ab dem 01.01.1998 gewährt wird. Mit Erlass des ZRBG kam 2002 als weitere, neue Möglichkeit hinzu, einen Antrag gem. ZRBG zu stellen mit dem Ziel, dass der Zeitraum vom 01.07.1940-15.02.1942 als Ghetto-Beitragszeit gem. ZRBG (über § 256 c Abs. 2 Sechstes Sozialgesetzbuch (SGB VI)) bewertet nach dem FRG berücksichtigt und ihr eine entsprechend höhere Rente gem. § 3 Abs. 1 ZRBG bereits ab 01.07.1997 gewährt wird. Wählt die Versicherte wie hier diese neue Möglichkeit, dann muss die Beklagten den Rentenbescheid, den sie 2004 gem. § 44 SGB X erlassen hat im Tenor dahingehend ändern, dass bereits ab 1.7.1997 und nicht erst ab dem 1.1.1998 eine gegenüber der 1996 gewährten Rente eine höhere Rente gewährt wird.
Dass die Versicherte frei zwischen diesen beiden Alternativen wählen kann, ergibt sich daraus, dass das ZRBG gem. § 1 Abs. 2 nach dem Willen des Gesetzgebers das WGSVG ausdrücklich „ergänzt“ und nicht diesem vorgeht oder nur greift, soweit das WGSVG keine Regelung bereit hält. Der Gesetzgeber wollte nach der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Ds. 14/8583, S. 6) damit lediglich klarstellen, dass das ZRBG nicht die Anwendung der im WGSVG geregelten weiteren zusätzlichen Regelungen in dessen Teil III ausschließt (vgl. zur Eigenständigkeit der Regelungen in diesen Gesetzen auch: BSG, Urt. v. 26.07.2007, Az. B 13 R 28/06 R).
Dass der Antrag nicht dadurch ausgeschlossen ist, dass die Versicherte bereits eine eigene Rente bezieht, hat das BSG bereits in seinem Urteil vom 03.05.2005, Az. B 13 RJ 34/04 R zu § 306 SGB VI entschieden. Darin führt das BSG aus, dass mit dem ZRBG eine wesentliche Änderung der rechtlichen Verhältnisse für die betroffenen Versicherten eingetreten ist und Bestandsrentner nach Sinn und Zweck des ZRBG nicht „von der Rechtswohltat des ZRBG auszugrenzen“ sind.
Im hier vorliegenden Fall lässt sich eine „Ungleichbehandlung von im Wesentlichen gleichen Personengruppen“ nur vermeiden, wenn die Voraussetzung des § 48 Abs. 1 SGB X „wesentliche Änderung“ bejaht wird. Anderenfalls würden Bestandsrentner mit bereits bestandskräftigem, aber zu ihren Lasten fehlerhaftem Rentenbescheid aufgrund der Ausschlussfrist des § 44 Abs. 4 SGB X ungleich behandelt werden gegenüber der Vergleichsgruppe derjenigen, die bis zum Erlass des ZRBG 2002 noch gar keinen Rentenantrag gestellt hatten (vgl. zur verfassungsrechtlichen Ungleichbehandlung BSG, Urt. v. 03.05.2005, Az. B 13 RJ 34/04 R), und das mit der hier sich auswirkenden großzügigen Übergangsregelung des ZRBG angestrebte Ziel, auch die Berechtigten, die erst aufgrund des Erlass dieses Gesetzes einen Antrag auf Rente stellen – wie die Versicherte –, so zu stellen, als hätten sie den Antrag bereits am Tag des BSG-Urteils über die rentenversicherungsrechtliche Behandlung von Beschäftigungen in einem Ghetto (BSGE 80, 250) gestellt (vgl. BSG, Urt. v. 03.05.2005, Az. B 13 RJ 34/04 R, veröffentlicht in juris, dort Rn. 29), würde verhindert.
Es liegt also eine wesentliche Änderung i.S.v. § 48 Abs. 1 SGB X vor.
Damit folgt die Kammer in diesem Sonderfall nicht der Definition des BSG, dass eine Änderung grundsätzlich nur dann rechtserheblich und damit wesentlich ist, wenn die bei Bescheiderlass – hier 1996 – in Wirklichkeit vorliegenden Verhältnisse den Verfügungssatz dieses Bescheides so tangieren, dass die Behörde ihn unter den veränderten Verhältnissen nicht mehr so wie geschehen entscheiden würde (vgl. BSG, Urt. v. 21.03.1996, Az. 11 Rar 101/94 = NZS 1996, 536 f.; BSG SozR 3870 § 4 Nr. 3; BSGE 65, 301). Hat die Beklagte also bei Bescheiderlass 1996 einen Fehler gemacht, dann ist vom Bescheidtenor bei zutreffender Rechtsanwendung und nicht auf den tatsächlich ergangenen Bescheidtenor abzustellen.
Legt man nur diese Definition zugrunde und stellt isoliert auf die rechtliche Situation 1996 und nicht auf die Situation im Jahr 2002 ab, dann liegt nach der 2004 von der Beklagten vertretenen Rechtsauffassung durch die Einführung des ZRBG keine wesentliche Änderung vor; denn der Tenor des Rentenbescheides, so wie die Versicherte nach Ansicht der Beklagten 2004 von Anfang an Anspruch gehabt hätte und sie ihn 2004 berichtigt hat, ändert sich nicht, da die Höhe der Entgeltpunkte und damit die Rentenhöhe vom ZRBG nicht zugunsten der Versicherten beeinflusst wird. Der 1996 erlassene Rentenbescheid war nach der 2004 vertretenden Auffassung der Beklagten rechtswidrig. 2004 hat sie diesen Fehler behoben und den Rentenbescheid von 1996 gem. § 44 SGB X rückwirkend dahingehend abgeändert, dass die hier streitige Beitragszeit als Pflichtbeitragszeit bewertet nach dem Fremdrentengesetz (FRG) im Versicherungsverlauf ausgewiesen und der Rentenberechnung zugrunde gelegt wird. Die Berücksichtigung der streitigen Zeit als Ghettobeitragszeit gem. ZRBG gem. § 2 Abs. 1 Nr. 1 ZRBG i.V.m. § 256 c Abs. 2 SGB VI in der Rentenberechnung führt auch zu einer Bewertung nach dem FRG. Die Höhe der Entgeltpunkte und damit die Rentenhöhe ändert sich nach Rechtsansicht der Beklagten von 2004 durch das ZRBG nicht zugunsten der Versicherten. Eine rückwirkende Auszahlung der höheren Rente war ihr rechtlich jedoch aufgrund des § 44 Abs. 4 SGB X und des 2002 gestellten Überprüfungsantrages erst ab 1998 möglich. Hätte sie jedoch das ZRBG angewandt, hätte sie aufgrund des § 3 Abs. 1 ZRBG und des im Jahr 2002 von der Versicherten gestellten Antrages eine gegenüber der 1996 gewährten Rente eine höhere Rentenzahlung rückwirkend für die Zeit ab 01. Juli 1997 auszahlen können.
Hier passt daher nach Ansicht der Kammer ausnahmsweise nicht die grundsätzlich zutreffende Rechtsprechung des BSG zur Wesentlichkeit einer Änderung. Dass diese nicht zwingend anzuwenden ist, wenn sie ausnahmsweise nicht sachgerecht ist, zeigt, dass das BSG selbst hiervon selbst in Sonderfällen abweicht (vgl. z.B. BSGE 67, 204).
Hier einen solchen Ausnahmefall anzunehmen, bewirkt in diesem Fall auch nicht, dass die Ziele vereitelt werden, die hinter der BSG-Rechtsprechung zum Wesentlichkeitsbegriff stehen. Grundsätzlich bewirkt die vom BSG ausgeurteilte o.g. Konkretisierung des Begriffs der Rechtserheblichkeit, dass für die Behebung eines anfänglichen Fehlers nicht § 48 SGB X, sondern zutreffend ausschließlich §§ 45, 44 SGB X Rechtsgrundlage bleiben (vgl. BSGE 65, 301 und Schütze, in: von Wulfen, 6. Aufl., SGB X, § 48, Rn. 6 m.w.N.) sowie Fälle fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses klar ausgeschlossen werden. Letzter liegen vor, wenn die eingetretene Änderung lediglich eine Veränderung in der Bescheidbegründung, aber nicht hinsichtlich der im Bescheid getroffenen Regelung bewirken, so dass sich für den Versicherten keinerlei Änderung hinsichtlich seiner Ansprüche ergibt. Dieser Maßstab bewirkt also insbesondere eine klare Grenzziehung zwischen den Normen §§ 44, 45 und 48 SGB X und führt auch für die Versicherten zu keinen Nachteilen, da sowohl bei §§ 44, 45 als auch bei § 48 SGB X die vierjährige Ausschlussfrist des § 44 Abs. 4 SGB X greift.
Hier liegt der Fall jedoch anders. Die §§ 44, 45 SGB X greifen in diesem Fall für das ZRBG nicht, da das ZRBG auch unter Berücksichtigung seiner Rückwirkung auf den 01.07.1997 bei erstmaliger Bewilligung der Regelaltersrente nicht existierte. Auch bewirkt das ZRBG bei seinem Erlass 2002 aufgrund der Bestandskraft des Rentenbescheides von 1996 für die Versicherte nicht lediglich einen Begründungsaustausch ohne Auswirkung auf die Ansprüche der Versicherten. Das wäre nur der Fall, wenn § 44 Abs. 4 SGB X nicht existierte oder auch hinsichtlich des ZRBG greifen würde. Aufgrund der Regelung des § 3 Abs. 1 ZRBG, der die Antragstellung auf den 01.07.1997 zurückfingiert, greift § 44 Abs. 4 SGB X hier jedoch nicht.
2. Soweit die Klägerin sich gegen den von der Beklagten festgelegten belegungsfähigen Gesamtzeitraum wendet, ist die Klage unbegründet. Der angefochtene Bescheid ist insoweit rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sie hat keinen Anspruch auf eine höhere Rente unter Berücksichtigung eines früheren Endes des belegungsfähigen Gesamtzeitraumes i.S.v. § 72 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 Sechstes Sozialgesetzbuch (SGB VI).
Die Beklagte hat im angegriffenen Rentenbescheid das Ende des belegungsfähigen Gesamtzeitraumes zutreffend bestimmt. „Beginn der Rente“ i.S.v. § 72 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB VI ist nicht der Beginn des Monats, der auf den Eintritt des Versicherungsfalls folgt (so aber BSG Urt. v. 24.07.2001, Az. B 4 RA 45/99 R), also im Fall der Klägerin nicht der Monat, welcher der Vollendung des 65. Lebensjahres der Versicherten 1987 folgt. Vielmehr ist der Beginn der Rente“ i.S.v. § 72 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB VI der Rentenzahlbeginn (vgl. BSG Beschluss v. 17.04.2007, Az. B 5 RJ 15/04 R), wie auch von der Beklagten in ihrem Bescheid angenommen. Die Kammer schließt sich der überzeugenden Begründung im Beschluss des BSG v. 17.04.2007, Az. B 5 RJ 15/04 R vollumfänglich an.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und berücksichtigt, dass die Klage überwiegend Erfolg hatte.