5 000 Männer sitzen zusammengedrängt im Zug (Güterzug). Bauschowitz versinkt hinter uns. Der Traum, mit der Familie zusammenbleiben zu können, ist aus. Es geht, so fühlen es alle, ins Ungewisse. Hineingequetscht (70-80 Menschen zwischen Rucksäcken, Koffern und allen möglichen Gepäckstücken beginnen sie die immer wiederkehrenden Debatten: Wohin?
Nach Dresden in ein Arbeitslager? Oder nach Mitteldeutschland? Keiner weiß etwas. Wie so oft, hat man sie über die wahren Absichten der SS im dunkeln gelassen. Zwischen Wachsein und Schlafen, im eintönigen Waggonrhythmus, klingt der Abschied vom Teuersten, das wir in Theresienstadt ließen, nach. Ja, die Mutter, Frau hat sich brav gehalten, hat tapfer mit den aufsteigenden Tränen gekämpft und fest, fest daran geglaubt, daß alles gut gehe. Wir Männer wissen es: das Teuerste, das sie bisher behütete, das für sie litt, es ist nun im Ungewisse. Alle, die im Zug, die in Theresienstadt – tappen im dunkeln.
Stationen geistern vorüber, gerade noch erkennbar im verdunkelten Licht, Häuser, Wald, Weide – immer weiter rattert der Zug. Dresden! Das Ziel! Da sollten wir doch aussteigen! – doch, wie so oft, es ist wieder kein wahres Wort an allem gewesen, weiter geht die Fahrt. SS-Posten auf jedem Trittbrett von beiden Seiten. Wer irgendein Papier aus dem Fenster wirft, wird erschossen. Die Männer sitzen ernst in den vollgepfropften Waggons. Immer wieder die eine Frage – Wohin? Pessimisten melden sich schon – in ein Konzentrationslager. Aber nein, man sagte uns doch, daß – Ja, man sagte uns! Wann hat schon die SS den Juden gegenüber Wort gehalten? – Weiter geht die Fahrt ins Ungewisse: Grässliche Minuten, Stunden, Tage. Bautzen, Görlitz, Neisse……
Einer denkt wieder an seine Frau. Was mag sie wohl jetzt machen? Bemerkt auf seinem Platz den Rest eines Margarinepapiers und wirft es achtlos aus den vergitterten Luftlöchern. Die Waggontür wird riesenhaft schnell aufgeschoben, es erscheint das wilde Gesicht des Untersturmführers, Transportleiters. Schreit. „Wer hat das Papier aus dem Fenster geworfen!“
Nervenberaubende Stille. „Na wird´s bald?“ Furcht kriecht hoch. Der nimmt den Revolver, entsichert ihn. „In einer Minute weiß ich, wer das Papier herausgeworfen hat, sonst lege ich den ganzen Waggon um!“ Schaut auf seine Armbanduhr. Bleich steht einer auf, meldet sich. „Es war ein Stück Margarinepapier, ich habe es hinausgeworfen.“ – „Du weißt, daß das verboten ist!“ – „Jawohl.“ Noch bleicher wird er. Der Untersturmführer legt an, zielt – die da sitzen, fassen es noch nicht – schießt, der andere sinkt blutüberströmt nieder, lebt noch. Ein Grüner tritt auf ihn zu, schießt ihn in den Kopf, dann stößt er den leblosen Körper mit dem Fuß in einen Winkel, und geht hinaus.
Das Blut strömt. Bedeckt den Boden. Die Männer sind erstarrt. Es hat alle tiefinnerst erschüttert. War das möglich? Ein Margarinepapier. Ein Mensch. Nicht hinsehen, weil das Blut fließt. Wo einer tot liegt, der noch vor Minuten unser aller Kamerad und Leidensgenosse war, mit all den Hoffnungen und Wünschen, wie wir sie selbst hatten. Nun wissen wir es.
Wir zählen nicht mehr als Menschen. Jetzt sind wir ganz in den Händen der SS. Weiter geht die Fahrt: unberührt von dem Geschehen in dem Waggon. Einer von vielen hat schon ausgelitten. Je weiter die Fahrt, Zug rollt durch Gleiwitz, Myslowitz, desto sicherer ist das Ziel: Auschwitz. Ein Arbeitslager? Was wissen wir darüber? Alles und nichts. Und dann noch ein paar Stationen, der Zug hält, wird auf ein anderes Gleis geschoben und bleibt stehen. Die 5 000 sehen hinaus: „Raus, rasch! Alles Gepäck im Waggon lassen! Mitnehmen verboten!“ Eine schmerzliche Überraschung folgt der anderen. Aufstellen zu zehnt, Stacheldraht mit den weißen Isolierknöpfen. Für die von ihnen, die schon einmal in einem Lager waren, das bekannte Bild:

Das Deutsche Konzentrationslager. - Das Deutsche Konzentrationslager!

Und da steht die Schlange der 5 000. Schon willenlos. Eine Herde schaut und schaut. Wir wissen nicht, was mit uns geschieht. Das letzte, was wir an Kleidung und Lebensmitteln besaßen, bleibt zurück. Zur Verfügung der SS. Gut genährte Sträflinge räumen schon die Waggons aus. Kreaturen der SS versorgen sich mit Zigaretten, Armbanduhren, Gold, Trauringen. Wir 5 000 schließen auf. Wir sind in einem Wachtraum. Ist das alles wahr? Ist das möglich? Um uns herum der Stacheldraht, elektrisch geladen: Verbrecher, ja zu Verbrechern wurden wir gestempelt, weil wir Juden sind. Nun wissen wir es, was sie befürchten.
Vorbei der Traum von all dem Schönen, was wir noch besaßen. Nur jetzt nicht denken an die Mutter, an die Frau, nur weg, weit weg mit den Gedanken. Wir fühlen, wie uns die Kehle zuschnürt, vor Augen das Gesicht unserer Lieben, die wir in Theresienstadt ließen. Wir denken nur: Gott schütze sie vor diesem Schicksal! Dann stehen wir vor dem SS-Mann. „Alter?“ – „37.“ – „Gesund?“ – „Ja.“ Kurzer forschender Blick, eine Handbewegung nach rechts. „Alter?“ – „52.“ – „Gesund?“ – „Kriegsverletzung am Arm.“ Der Daumen des SS-Mannes nach Links deutend. Und so weiter. Der Sohn wird von dem Vater gerissen, Bruder von Bruder. „Kann mein Vater mit mir gehen?“ – „Nein“, sadistisch blickt der SS-Mann. Und weiter pflügt er sich durch den Haufen. Dann Abmarsch in die Blocks. Verstummt sind 3 000. Wo sind die anderen? Keiner fragt laut. Eine ungeheure Spannung herrscht. Der Sohn, ich habe ihm noch etwas Dringendes zu sagen vergessen, ich muß doch zu ihm kommen! Bald, bald – plötzlich Kommandos. In die Sauna! Die Schlange bewegt sich zur Sauna. „Ausziehen! Nackt! Nichts darf ins Bad mitgenommen werden!“ Willenlos werfen sie alles hin: Dokumente, das Bild des Vaters, der Mutter, alles auf den Boden. In den Schmutz. Jetzt gehen sie in den Baderaum.
Dutzende Frauen. Handtuch und Seife werden verteilt. Sie trippeln herum, warten auf Wasser. Ein Sträflingsgesicht schaut durch gummi-abgedichtete Fenster. „Fertig!“ – „Jawohl!“ Die Türen schließen sich. Eng wird`s im Raum. Die da drinnen schauen auf die Brausen! Noch kein Wasser. Die Luft ist schlecht, es drückt so, Luft! Die Augen quellen hervor. Sie wollen schreien. Können nicht. Schreien! Die Brust zerspringt, Gas, Gas! Ich muß dem Sohn noch etwas Wichtiges mitteilen, ich sehe ihn schon: Ja, ich sehe dich. Du bist so undeutlich, meine Augen. Ja was ist mit den Augen? Die Mutter, ich sollte sie noch streicheln, und sie geht weg von mir, immer weiter weg, ich – Mutter – ich sehe dich nicht mehr.

So starben sie. 3 000. Wir, der kümmerliche Rest von sechs Millionen Juden, denken an sie und an die, die vor und nach uns starben. Das Grauen hat uns gezeichnet. Wir wissen um Leben und Tod. Wir sprechen nur noch selten darüber, und das Wort Familie ist uns nur ein Schein aus einer fernen, fernen Zeit geworden.

Wir lächeln wieder, weil wir leben. Wir sehen die Sonne, den Frühling, doch einsam bleiben wir. Wir sehen die Menschen an, die staunen über uns und machen mit uns Reklame, sie verstehen uns nicht, einsam bleiben wir.

Sagan Mai 1945
Otto Hermann aus Dortmund