Grafeneck

Am Dienstagmorgen, den 4. Juni 1940, standen wieder die grauen Busse vor der Tür. Schon am Vorabend wurden die Abzureisenden bekannt gegeben: 64 Namen, 64 Frauen wurden Nummern auf den Arm geschrieben. Als Abschiedsgeschenk gab es eine neue Zahnbürste und ein Stück Seife; das hat den Frauen bestimmt gefallen. Das Reisebündel war schnell gepackt, hier besaß niemand viel. Die Fahrt geht über Heilbronn nach Stuttgart, die Schwäbische Alb hinauf, dann am Gestüt Marbach vorbei in Richtung Münsingen. Die Bauern auf den Feldern schauen schweigend dem Bus hinterher, manche nehmen die Kappe ab. Die Busse passieren den Schlagbaum und das Tor; sie halten schließlich vor einer Baracke. Als die Frauen aussteigen, sehen sie nur Hauswände und Bretterzäune. Bei der Ankunft heißt es gleich: alle ausziehen! Jeder Neuankömmling muss zur ärztlichen Untersuchung, wird dort befragt, begutachtet, gewogen und sogar fotografiert. Anschließend treffen alle wieder in einem großen Raum zusammen. Die nackten Frauen bekommen alte Militärmäntel, die sie sich überwerfen, denn ihre Kleider sind schon eingesammelt. Seit dem Frühstück haben die Patientinnen nichts mehr gegessen; einige klagen, sie haben Hunger. Erst muss geduscht werden, heißt es, dann gibt’s Essen. Eine Aufsichtsperson kommt und ruft zur Reinigung. Jetzt aber hurtig hinaus! Gehorchen haben die Frauen in Weinsberg gelernt. Hat jeder die neue Seife? Warum bekommen wir kein Handtuch, werden manche gedacht haben. Aber zum Fragen bleibt keine Zeit. Die Frauen in den langen Mänteln folgen dem Pflegepersonal. Von der Baracke geht es zu einem bretterumzäunten Hof. Dahinter sind neue Gebäude zu sehen – und hohe Schornsteine. Das große Tor wird geöffnet, die Gruppe geht hinein; und für die 64 Frauen schließt sich das Tor – für immer