Der Puppenfall

Die Anklage legt Suchomel folgendes zur Last:
Im Frühjahr 1943 habe er die Aufsicht beim Entladen eines aus Bulgarien kommenden Transportes gehabt. Dabei habe er in den Händen eines auf dem Arm seiner Mutter sitzenden Kindes eine Puppe bemerkt. Er habe versucht, sie dem Kind zu entreißen. Als ihm das misslungen sei, habe er seine Pistole gezogen und die Mutter erschossen. Danach habe er die von dem Kind fallengelassene Puppe ergriffen und die Juden, die Puppe in der Hand schwingend, mit Peitschenhieben zu den Gaskammern getrieben.

Die durch das Amtsgericht in Tel Aviv eidlich vernommene 42 Jahre alte Hausfrau Su. hat hierzu unter anderem folgendes bekundet.
Wir waren einige Leute in der Baracke, in der verschiedene Sachen, Stoffe usw. sich befanden. Wir wollten alles sehen, da die Konspiration bereits begonnen hatte. Es waren Regale an der Wand. Wir standen dort, um beobachten zu können. In der Baracke befanden sich im oberen Teil der Wand schmale, längliche Fenster. Wir stiegen auf die Regale, um durch diese Fenster durchzusehen. Es waren außer mir noch einige Männer, die in der Baracke arbeiteten. Eine deutsche Aufsicht war nicht da. Von diesen Fenstern konnte ich beobachten, wie die Menschen vom Bahnsteig in die Baracke getrieben wurden, wo ihnen das Haar geschnitten wurde. Auch den Weg habe ich sehen können. Die Leute wussten nicht, wohin sie gehen, so glaube ich wenigstens. Die Menschen des Transportes sahen uns gegenüber noch sehr gut aus, sie waren noch in guter Verfassung. Von meinem Standpunkt aus gegenüber stand eine Frauengruppe, deren Haar noch nicht geschnitten wurde, teilweise nackt, teilweise angezogen. Dort habe ich eine junge Frau gesehen, die ein Kind in ihren Armen hielt. Es war ein schönes Kind. Es hielt eine Puppe in der Hand. Suchomel erschien. Er wollte die Puppe haben. Das Kind wollte sie ihm nicht geben, worauf er anfing, das Kind zu schütteln. Die Frauen fingen an zu schreien. Ich horte einen Schuss. Die Frau, die das Kind hielt, fiel um. Außer Suchomel war niemand an der Stelle. Wer geschossen hat, weiß ich nicht. Suchomel hatte eine Pistole in der Hand. Ich kann nicht sagen, in welcher Hand er sie hielt. Das genügte mir. Ich habe nichts mehr gesehen.

Daneben hat die Zeugin Su. vieles ausführlich geschildert, was das allgemeine Lagerleben und das Verhalten anderer SS-Männer betrifft und was auch mit den Angaben mehrerer Zeugen übereinstimmt. Insofern kann man ihrer eidlichen Aussage folgen. Das gilt jedoch nicht für ihre Angaben über Suchomel, insbesondere für die Darstellung des sogenannten Puppenfalles.
Es ist zwar richtig, dass zu der von der Zeugin genannten Zeit auch Transporte aus Bulgarien in Treblinka ankamen, und es ist nicht ausgeschlossen, dass die Zeugin die Abfertigung eines solchen Transportes von der Sortierbaracke aus gesehen hat. Allerdings haben alle Angeklagten übereinstimmend erklärt, dass weibliche Häftlinge die Sortierbaracke nicht betreten durften, und auch keiner der vernommenen jüdischen Zeugen des Sortierkommandos hat etwas davon erwähnt, dass weibliche Häftlinge ohne Bewachung in die Sortierbaracke gelangen konnten. In jedem Falle hat die Zeugin aber durch ein kleines Oberlicht der Sortierbaracke nicht alle Vorgänge bei der Abfertigung eines Transportes von etwa 2000 Menschen denn so viele Personen waren es im Durchschnitt, wenn man von 20 Güterwaggons mit etwa 100 Insassen pro Waggon ausgeht genau beobachten können. Sie will selbst auch nur Suchomel gesehen haben und schließt hieraus, dass er die Leitung der Abfertigung gehabt haben müsse. Das ist sicherlich unrichtig, da die gesamte Beweisaufnahme nicht ergeben hat, dass Suchomel jemals einen Transport verantwortlich abgenommen und somit dessen Abfertigung geleitet hat. Zudem kann er niemals der einzige Deutsche gewesen sein, der dabei war, denn bei einlaufenden Transporten wurden alle verfügbaren deutschen SS-Männer des unteren Lagers zur Rampe befohlen.
überdies ist auch nicht sicher, dass er den Schuss auf die bulgarische Jein abgegeben hat, da links und rechts von den Ankömmlingen immer eine dichte Postenkette von Ukrainern stand, die rücksichtslos von der Schusswaffe Gebrauch machten, wenn sie es für erforderlich hielten. Es ist also keineswegs ausgeschlossen, dass ein Ukrainer auf die Mutter schoss, als er sah, dass Suchomel ihrem Kind die Puppe nicht wegnehmen konnte. Ob die Zeugin genau beobachtet hat, erscheint auch deshalb zweifelhaft, weil sie im Freien vor der Frauenauskleidebaracke nackte Frauen gesehen haben will. Dass sich die Frauen bereits im Freien ausziehen mussten, hat aber kein anderer Zeuge bekundet.
Schließlich ist es auffallend, dass Frau Su. ihrer damaligen Freundin, der Zeugin Lew., nichts von der Erschiessung der bulgarischen Jüdin unter derart dramatischen Umständen erzählt hat. Das hätte umso näher gelegen, als solche Taten bei Suchomel im Gegensatz zu Franz, Miete und Kttner nicht üblich waren. Außerdem war Suchomel als Chef der Hofjuden auch der Vorgesetzte der beiden Frauen, die sicherlich keine Geheimnisse vor einander hatten, wenn es um Personen ihrer nächsten Umgebung ging.
Einem Irrtum ist die Zeugin Su. mit der Sicherheit zudem insoweit unterlegen, als sie angibt, Suchomel habe auf dem Appellplatz sehr oft Häftlinge geprügelt.
Viele zuverlässige Zeugen, darunter
Gl.
Un.
Pla.
Oscar Stra.
Raj.
Wei.
haben gerade im Gegenteil erklärt, dass Suchomel außerhalb der Transportabfertigungen niemals geschlagen habe. Durch das Geständnis von Suchomel und die Angaben des Zeugen Do. hat sich lediglich ein einziger Vorfall konkretisieren lassen, bei dem Suchomel einem auf dem Bock liegenden Häftling auf Befehl wenige Schläge mit der Peitsche verabreichte.

Obwohl das Schwurgericht keineswegs verkennt, dass die Zeugin Su. sich redlich um eine wahrheitsgemäße Aussage bemüht haben mag, so ist doch eine starke subjektive Färbung ihrer Aussage zum Nachteil des Angeklagten Suchomel nicht zu übersehen.
Das Schwurgericht ist der Meinung, dass die Zeugin den Angeklagten Suchomel, der sie vor dem Gastod gerettet hat, zwar zunächst dankbar gegenüber stand und von ihm möglicherweise erwartete, er werde auch weiterhin seine schützende Hand über sie halten. Sie mag dann aber bitter enttäuscht gewesen sein, als sie nach 6 Monaten vom unteren Lager in das Totenlager verlegt wurde, was eine erhebliche Verschlechterung war. Während die Zeugin bisher im unteren Lager in der Schneiderei feinere Arbeiten verrichtete, musste sie im Totenlager, die brennenden Leichenroste ständig vor Augen, in der dortigen Wäscherei und Küche viel schwerer arbeiten.
Die Beweisaufnahme hat den Grund für diese Verlegung nicht klären können. Suchomel gibt an, der SS-Hauptscharführer Kttner habe die Zeugin ins Totenlager versetzt. Frau Su. bekundet lediglich, sie sei wegen irgendeines Vergehens ins Lager 2, also das Totenlager, gekommen. Beide haben den Grund für diese Verlegung nicht angegeben. Fest steht jedoch, dass Suchomel bei Kttner nichts unternommen hat, um die Zeugin in seiner Schneiderwerkstatt behalten zu können, obwohl er hierzu die Möglichkeit gehabt hätte. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Frau Su. seit diesem Zeitpunkt auf Suchomel nicht mehr gut zu sprechen ist und dass ihre Aussage insoweit von Empfindungen und Gefühlen nicht frei ist. Ihrer Bekundung über den Angeklagten Suchomel, die zudem von keinem anderen Zeugen, auch nicht von der Frau Lew., die mit Frau Su. im unteren Lager und später auch im Totenlager zusammen war, bestätigt worden ist, muss daher mit Vorsicht begegnet werden. Sie allein reicht zur sicheren Überführung des Angeklagten Suchomel, der die Wegnahme der Puppe und die Erschießung der bulgarischen Jüdin energisch in Abrede stellt, nicht aus.