Die Erschießung eines jungen Häftlings auf dem Sortierplatz wegen Nichtabtrennung eines Davidsterns

An einem Tage im Oktober 1942 beaufsichtigte der Angeklagte Miete das Sortierkommando. Bei der Kontrolle der bereits sortierten und gepackten Kleiderbündel bemerkte er, dass ein junger Häftling im Alter von 14 bis 17 Jahren es entgegen den Vorschriften vergessen hatte, von einem Kleidungsstück den Judenstern abzutrennen. Er stellte den jungen Mann wegen dieses Versäumnisses zur Rede und sagte ihm, ohne irgendeine Erregung zu zeigen, dass er sterben müsse, weil er nicht gut gearbeitet habe. Um den anderen Kleidersortierern die Folgen einer nachlässigen Arbeit zu demonstrieren, tötete er den Häftling vor den Augen seiner Kameraden auf dem Sortierplatz durch einen Genickschuss aus seiner Pistole. Diese Tat führte er eigenmächtig aus denn ein Vorgesetzter, der ihm hierzu hätte einen Befehl erteilen können, war während dieses Vorfalles auf dem Sortierplatz nicht anwesend. Die Leiche des jungen Häftlings ließ Miete dann in die Lazarettgrube schaffen.

Der Angeklagte Miete gibt diese Tat glaubhaft zu.

Er macht jedoch folgendes geltend:
Bei der Reorganisation des Lagers habe Christian Wirth eine allgemeine Anordnung des Inhalts erlassen, dass jeder Häftling des Sonderkommandos zu erschießen sei, der es verabsäume, von einem Kleidungsstück den Judenstern abzutrennen. Den ins Reich versandten Kleidern sollte man nämlich unter keinen Umständen anmerken, dass sie von Juden stammten. Man hätte ihm Vorwürfe gemacht, wenn mit dem Judenstern versehene Bekleidung aus Treblinka abtransportiert worden wäre. Er habe es deshalb für notwendig gehalten, die Anordnung Wirths zu befolgen und den jungen Häftling an Ort und Stelle zu erschießen. Es sei zwar möglich gewesen, den Häftling nur zu verwarnen oder auf eine andere Art und Weise, z.B. durch Prügel, zu bestrafen. Das hätte aber die anderen Juden vom roten Kommando nicht genügend beeindruckt und nicht zu einer genaueren Einhaltung der Vorschrift über das Abtrennen des Judensterns von den Kleidern geführt.

Diese Angaben des Angeklagten Miete sind nicht geeignet, seine Verantwortung zu mindern, denn es steht fest, dass er den Häftling eigenmächtig erschossen hat, ohne vorher einen Vorgesetzten zu fragen und ohne einen bestimmten Befehl zur Erschießung zu bekommen. Miete räumt selbst ein, dass es ihm trotz der Anordnung von Wirth möglich gewesen wäre, den jungen Häftling milder zu bestrafen oder ihn gar nur zu verwarnen. Das hätte umso näher gelegen, als der Häftling den Stern wahrscheinlich nur aus Nachlässigkeit, keineswegs jedoch absichtlich an dem Kleidungsstück belassen hat. Dass Miete sofort entschlossen war, die Vergesslichkeit des jungen Mannes mit dem Tod zu ahnden, lässt den Schluss zu, dass er diese Gelegenheit zur Demonstration seiner Macht nicht ungenutzt vorübergehen lassen wollte.

Die Erschießung des jungen Häftlings auf dem Sortierplatz, der einen Davidstern nicht abgetrennt hatte, ist nicht nur durch das Geständnis des Angeklagten, sondern auch durch die eidliche Bekundung des Zeugen Ja. bewiesen. Der Zeuge hat den Vorfall aus nächster Nähe mitangesehen. Da er sich vom 3.Oktober 1942 an nur etwa drei Wochen lang in Treblinka befunden hat, ist auch die zeitliche Einordnung der Erschießung des jungen Mannes möglich. Seine Tötung fällt demnach in den Oktober 1942. Der Zeuge Ja. hat Miete sofort wiedererkannt. Er hat nicht nur die allgemeinen Lagerverhältnisse, sondern auch einzelne Taten der Angeklagten Franz und Miete so sachlich und präzise geschildert, dass an seiner Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit keine Zweifel bestehen.