St. Johannes Stift
Kinderfachabteilung des Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden Marsberg
In Marsberg wurde 1744 als letzte Klostergründung im Herzogtum Westfalen vor der das Kapuzinerkloster Marsberg gegründet. Nach dem Ende des Herzogtums Westfalen wurde die hessen-darmstädtische Verwaltung auf die unzureichende Irrenfürsorge im neuen Landesteil aufmerksam. Im einige Jahre zuvor säkularisierten Kapuzinerkloster wurde daher 1814 das Landeshospital Marsberg eröffnet. Anfangs beherbergte die Einrichtung 17 Patienten. Erster Leiter war Julius Wilhelm Ruer.
Im Jahr 1835 wurde die Einrichtung in Heilanstalt umbenannt. Zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen wurde 1881 das St. Johannes Stift, getragen durch den katholischen Orden der Vinzentinerinnen, gegründet. Bereits etwa zehn Jahre später waren dort 284 Patientinnen und Patienten untergebracht.
In der Zeit des Nationalsozialismus wurde Marsberg zu einem Tatort des Euthanasieprogramms. Das St. Johannes Stift wurde eine Kinderfachabteilung des Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden. In den folgenden Monaten wurden dort etwa 50 Kinder und Jugendliche getötet. Wegen Unruhe in der Bevölkerung wurde 1941 die Fachabteilung geschlossen. Die Abteilung wurde in die Klinik in Aplerbeck verlegt.
Während des zweiten Weltkrieges diente das St. Johannes Stift als Lazarett, außerdem hatte es die Patienten aus der von Bomben zerstörten Anstalt in Münster aufzunehmen.
Seit 1948 befinden sich die Heilanstalt sowie das St. Johannes Stift in der Trägerschaft des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe. Auch nach dem Ende des Euthanasieprogramms gab es in der Kinderklinik noch lange erhebliche Defizite in Hinblick auf Betreuung und Pädagogik
Mißbrauch nach 1945
Bericht von Paul Brune, Überlebender des Naziterrors
Nach 1945 geht die Anstalt für geisteskranke und geistesschwache Kinder des Provinzialverbandes Westfalen zwar in die Trägerschaft des Landschaftsverbandes Westfalen- Lippe über, bleibt aber in der Hand der Vinzentinerinnen, einer Ordensprovinz, die kirchenrechtlich dem Bischof von Paderborn untersteht.
In dem Bericht wird der Versuch unternommen, Einblick zu geben in die dort nachweislich bis 1974 herrschenden institutionellen Verhältnisse. Dabei stellt sich die Frage nach der politischen und gesellschaftlichen Verantwortung für die jahrzehntelange grundgesetz- und verfassungswidrige Anstaltspraxis und nach der Rolle des Landschaftsverbandes Westfalen- Lippe, der Landesregierung sowie der Justiz von NRW und nicht zuletzt der katholischen Kirche. Natürlich tun sich auch Fragen auf nach den Zuständen in anderen vergleichbaren Einrichtungen während dieser Periode.
Paul Brune gerät aufgrund tragischer Verwicklungen von familiären und politischen Ereignissen als Kind 1942 in die Fänge der NS- Psychiatrie. Nach seiner Einweisung in die Kinderfachabteilung von Dortmund- Aplerbeck wird er 1943 als 8-Jähriger in das St. Johannesstift verlegt. Die Verlegung bewahrt ihn vor dem Euthanasie- Programm, aber er bleibt verurteilt zu einer Anstaltslaufbahn, die ihn zeitlebens über seine Krankenakte begleitet. In seiner Eingabe an den Petitionsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags von 1966 erinnert er sich an seine ersten Eindrücke vom St. Johannesstift:
Am 03.09.1943, dem Tag meiner Aufnahme, kam ich auf eine Station mit 50 anderen Jungen in meinem Alter. Das Haus befand sich direkt neben dem Küchenhaus der Anstalt. Die Räume waren leer und kahl. Außer einem Kreuz und einem Adolf Hitler- Bild hing nichts an den Wänden, das einzige Mobiliar bestand aus großen blankgescheuerten Tischen und eben solchen Bänken im Tagesraum und Betten in den Schlafräumen. Sonst nichts. Absolut nichts. Keine Blume, kein Spiel, erst recht kein Buch. Das Personal in seiner Abteilung besteht aus einer Nonne, einer Pflegerin und einem Hausburschen, der zum stumpfsinnigen Befehlsempfänger gedrillt worden ist. Über die Pflegerin weiß Paul Brune zu berichten, dass sie absolute Herrscherin ist und mit sadistischer Grausamkeit Kinder quält, die gegen ihre Regeln verstoßen. Sie hat die ganze Naziideologie in ihrem Untermenschenvokabular verinnerlicht und beschimpft die Kinder ständig als Abschaum der Menschheit, Minderwertige, unnütze Esser, Drohnen und Schmarotzer.
Hatte sie es besonders auf ein Kind abgesehen, so krallte sie ihre Hand in das kindliche Bauchfleisch ihres Opfers und drehte ihre Hand bzw. das Fleisch.
Der Hausbursche muss die Jungen alle vierzehn Tage baden:
Er ließ das kochende Wasser in die Wanne und steckte die Knaben, ohne die Temperatur zu prüfen, in das Wasser. Einmal war das Wasser so heiß, daß der Junge Günter K. zu Tode gebrüht wurde. Er ist gestorben und auf dem Anstaltsfriedhof begraben worden. Ich selber habe diesen Vorfall gesehen. Einzige Konsequenz für den Hausburschen war, daß die Pflegerin ihn hysterisch beschimpfte und ihm Ohrfeigen gab. Damit war der Fall erledigt und er waltete nach wie vor seines Amtes als Hilfspfleger und dies, wie ich in Erfahrung bringen konnte, bis Ende der fünfziger Jahre.
Ein Jahr später kommt Paul Brune von der sog. tiefstehenden Station auf die Schuljungenstation. Er besucht jetzt die Idiotenschule der Anstalt. Die sog. Schulschwestern haben weder eine pädagogische Ausbildung noch ein Studium für ihre Tätigkeit abgelegt. Stattdessen stehen die Vinzentinerinnen mit ihrem Mutterhaus in Paderborn ganz unter dem Einfluss des dortigen Moraltheologen Joseph Mayer. Er tritt unter der Nazi-Herrschaft als Befürworter der Euthanasie für Geisteskranke auf.
In seiner Dissertation über Gesetzliche Unfruchtbarmachung Geisteskranker von 1927 begründet er, mit dem Imprimatur der katholischen Kirche ausgestattet, die Zwangssterilisation für diese Gruppe wie folgt:
Tatsächlich werden heute Tausende von Anormalen, die früher in der Einsamkeit schmutziger Winkel oder in der Verlassenheit unwirtlicher Wälder und Bergschluchten oder auf der breiten Straße des Weltgetriebes längst zu Grunde gegangen wären, mit einer Sorgfalt und Liebe gepflegt, welche Hunderttausende von Normalen , die im harten Kampfe des Lebens stehen, schmerzlich vermissen. Während sozial tüchtige Arbeiter, gerade auch geistige Arbeiter, vielfach in dumpfen, engen Räumen das Elend der Wohnungsnot durchkosten, werden Idioten, Schwachsinnige und Verbrecher nach allen Regeln der modernen Hygiene verpflegt und ihr Leben durch ärztliche Kunst verlängert. Viele von ihnen werden halb oder scheinbar geheilt, werden der Freiheit zurückgegeben und richten hier eine Menge von Unheil an. Staat und Gemeinde tragen ungeheure Kosten für sie. Und was biologisch das Schlimmste ist: viele Anormale erzeugen Kinder, die noch zahlreicher, noch minderwertiger und noch gefährlicher sind als sie selber. ( Mayer 1927)
Mayer predigt den Ordensschwestern eine unbarmherzige Einstellung gegenüber minderwertigen und geistesschwachen Kindern. Die Hälfte von ihnen trägt den Keim der Entartung von der Stunde der Zeugung an in sich, und selbst die beste soziale Fürsorge, die vorzüglichste Hilfsschule, die modernste Heil- und Pflegebehandlung kann diese Gruppe von Unglücklichen nie im Leben wirklich heilen. Erblich belastete Geisteskranke befinden sich in ihrem Triebleben auf der Stufe der unvernünftigen Tiere. Ihre zuweilen untermenschlichen und untertierischen Zustände legitimieren z. B. die Asylierung, die Unfruchtbarmachung.
Die Vinzentinerinnen erfüllen mit ihrer menschenverachtenden Haltung gegenüber den Kindern und Jugendlichen den Auftrag ihres Lehrmeisters. Die Schulkinder sollen neben dem Beten vor allem hart arbeiten und sich für die Anstalt nützlich machen. In der Bevölkerung von Marsberg werden sie auch die Kriechtiere genannt, weil man sie mit krummen Rücken in den Feldern arbeiten sieht. Von den Produkten, die sie geerntet haben, sehen die Kinder allerdings nichts. Sie kommen ausschließlich dem Anstaltspfarrer, der auch gleichzeitig Schulleiter ist, und den Nonnen zugute. Die Kinder leiden Mangel und Hunger. Unzählige Kinder sterben infolge von Unterernährung.
Den Anstaltspfarrer August Heide hat Paul Brune als gefühlskalt und gemütsroh empfunden. Er redet nie mit Paul, obwohl dieser ihn oft als Messdiener begleiten muss. In seiner Petition von 1966 schreibt Paul Brune:
Heute weiß ich, daß er von unserer Minderwertigkeit überzeugt war. Daß er die kleinsten Freuden für uns Kinder als höllisches Verhängnis ansah. Er feuerte die Nonnen unentwegt an, uns um unseres ewigen Seelenheils willen, in die strengste Zucht zu nehmen. Eine Nonne kann unter diesen Vorgaben ihren Sadismus besonders intensiv ausleben.
Über sie schreibt Paul Brune in seiner Petition:
Diese Nonne kam 1950 in die Anstalt und auf unsere Station. Es war der leibhaftige Satan in Nonnentracht. Leiseste Ansätze von Solidarität unter den Kindern wurden im Keime erstickt. So setzte diese Nonne ihren Ehrgeiz darein, aus den Kindern reißende Hyänen zu machen. So war es jedem Kind erlaubt, einem andern eine Ohrfeige zu versetzen, wenn es dieses beim Schwatzen ertappt hatte. Unentwegt feuerte sie die Kinder zur Gruppenkeile an. Man kann sich nicht vorstellen, welch scheußliche Zustände seitdem auf der Station herrschten. Jeder war dem anderen Aufseher und Richter. Die abscheuliche Nonne nannte diesen Horror Selbsterziehung.
Die Petition enthält eindringliche Beschreibungen der weiteren Stationen von Paul Brunes Leidensgeschichte:
Als 15-Jähriger kommt er zu einem Bauern in die sog. Familienpflege. Er wird zweieinhalb Jahre auf unerträgliche Weise als Arbeitskraft ausgebeutet und gequält. Er versucht, sich das Leben zu nehmen. Wieder eingewiesen in Marsberg, wird er von den Ärzten als Schizophrener und Psychopath behandelt, niemand will ihm seine Erlebnisse glauben. Er unternimmt einen Fluchtversuch zu seinen Verwandten. Seine Tante ist bereit, ihn aufzunehmen, und teilt dies der Anstalt mit. Die Anstaltsleitung lässt ihn abholen und bringt ihn zurück nach Marsberg, da er gefährlich sei. 1953 wird Paul Brune in die Heilanstalt Münster verlegt, zwecks endgültiger Unterbringung, wie es offiziell heißt.
Mit der Hilfe eines Priesters, der dort als Patient in seiner Abteilung untergebracht ist, kann Paul Brune die Anstalt verlassen. Zunächst kommt er in die Familienpflege. Danach nimmt er zahlreiche ungelernte Hilfsarbeitertätigkeiten auf, bevor er, dem das Recht auf Bildung bis dahin verweigert wurde, sich aus eigener Anstrengung bildet.
Eine Antwort auf seine Petition von 1966 bekommt er vom Landtag nicht. Stattdessen meldet sich die Stadt Essen und gewährt ihm vier Jahre lang Sozialhilfe, damit er in dieser Zeit sein Abitur auf einer Abendschule nachmachen kann. Paul Brune nimmt an, dass diese Gewährung die Antwort auf seine Eingabe ist, und bezeichnet sie fortan als Schweigegeld. Eine offizielle Rehabilitation als NS- Opfer erreicht er erst 2003 im sechsten Petitionsverfahren. Der derzeitige Direktor des Landschaftsverbandes entschuldigt sich öffentlich für die Leiden, die Paul Brune in Einrichtungen des Landschaftsverbandes angetan wurden.
Warum brauchte es für die Anerkennung so lange? Noch 1987 leugnet der Landschaftsverband seine unrühmliche Geschichte in einer öffentlichen WDR- Fernsehsendung Mittwochs in Marsberg. Vertreter des Landschaftsverbandes widersprechen Paul Brunes Darstellung der damaligen Verhältnisse. Erfreulich für ihn ist jedoch, dass der Sonderschullehrer Gerhard Kroh durch die Sendung auf ihn aufmerksam wird und sich bei ihm meldet. Auf diese Weise erfährt Paul Brune, dass die Kinder und Jugendlichen im St. Johannesstift noch bis in die siebziger Jahre hinein rechtlos der Willkür von Ordensschwestern, Pflegern und Ärzten ausgesetzt waren. 1972 wird Gerhard Kroh vom Landschaftsverband als Schulleiter eingestellt. Er hat den Auftrag, die fast hundertjährige Einrichtung schulorganisatorisch neu zu gestalten. Er soll zum ersten Mal in der Geschichte der Anstaltsschule den Anstaltspfarrer als Schulleiter ersetzen. Als er die Stelle antritt, kann von Schule nicht die Rede sein. Es gibt für die fast 1000 Kinder nur eine einzige siebzigjährige ehemalige Volksschullehrerin, ein paar Pfleger für den Werkunterricht und ansonsten wird der Unterricht von den pädagogisch unqualifizierten Nonnen bestritten. Allein für jede Nachtwache in den Schlafsälen der Kinder und Jugendlichen bekommen die Ordensschwestern 90 DM. Ein lukratives Geschäft für den Orden und den Bischof von Paderborn.
Immer noch gilt der Grundsatz, dass Bildung den geistig behinderten Kindern schadet. Es gibt folglich keinerlei Lehr- und Lernmittel. Dieser rechtswidrige Zustand in Marsberg wird vollends zu einem ungeheuerlichen Skandal durch Krohs Feststellung, dass die als geistig behindert abgestempelten Patienten mindestens zur Hälfte normal intelligent sind. Ihre meist milieubedingten Verhaltensauffälligkeiten werden durch die Art der Heimunterbringung verstärkt. In einem Interview mit dem Filmemacher Robert Krieg berichtet Gerhard Kroh von ihren damaligen menschenunwürdigen Lebensbedingungen: Die Unterbringung im Heim war äußerst beengt. Den Kindern stand nur zur Verfügung ein Nachttisch und das eigene Bett. Und da waren also auch die ganzen Säle eng an eng mit Betten belegt. Die Kinder hatten keine Bewegungsfreiheit, keinen privaten Raum, wo sie sich zurückziehen konnten. Sie waren also wirklich wie ein Stall voller Hühner gewesen, die immer aufeinander hockten, und dadurch wurden natürlich Aggressionen ausgelöst. Die Unterbringung entsprach nicht der damaligen Zeit. Also durch die Beengung in dem Heim konnten sich die Kinder nicht frei entfalten, denn sie standen dauernd unter Aufsicht von morgens bis zum späten Abend. Es gab zwar auch geführte Spaziergänge, einmal oder zweimal in der Woche, aber letztendlich waren die Kinder immer unter Aufsicht. Nachdem Gerhard Kroh einen ersten Situationsbericht für den Landschaftsverband vorgelegt hat, fordert 1973 auch das Kultusministerium von ihm einen Sachstandsbericht. Wahrheitsgetreu schildert Kroh ohne Beschönigung die Verhältnisse, wie er sie dort in Marsberg vorfindet. Die Nonnen sind empört und drohen gegenüber dem Landschaftsverband damit, ihre Tätigkeiten sofort niederzulegen, falls Gerhard Kroh als Schulleiter verbleiben sollte. Diese Drohung wirkt und der Landschaftsverband legt ihm nahe, das Dienstverhältnis aufzukündigen. Als unter den Kindern bekannt wird, dass ihr Lehrer die Schule verlassen wird, kommen etliche Jungen zu ihm mit der Bitte, sie nicht im Stich zu lassen. Sie berichten ihm von Demütigungen und Misshandlungen durch Schwestern, Pfleger und Ärzte:
Jungen werden von Pflegekräften gezwungen, ihr eigenes Erbrochenes zu verzehren. Schüler, die sich aufsässig zeigen, werden von den Kindern der Abteilung auf Anweisung des Pflegepersonals in eine Badewanne mit kaltem Wasser geworfen und so lange mit kaltem Wasser überschüttet, bis sie in Atemnot geraten. Bei Unruhe in den überfüllten Schlafsälen werden die schuldigen Jungen gezwungen, so lange auf dem Boden zu knien, bis sie ohnmächtig umfallen, oder alle Jungen, auch die unbeteiligten, werden mit einem Lederriemen geschlagen. Jungen, die in der Schule auffällig sind, werden tagelang auf einer Station für Schwerstgeistigbehinderte isoliert und im Falle ihres Widerstands mit starken Drogen ruhig gestellt. In den meisten Abteilungen ist es den Kindern und Jugendlichen nicht möglich, ungehindert von ihrem gesetzlich verbürgten Recht Gebrauch zu machen, sich schriftlich an ihr zuständiges Jugendamt bzw. an ihre Erziehungsberechtigten zu wenden. Auch die Schwestern beteiligen sich an den Misshandlungen. Gerhard Kroh und seiner Frau lassen die Anschuldigungen der Kinder keine Ruhe. Im Januar 1974 wendet sich Frau Kroh mit einer Eingabe, in der sie die Vorwürfe der Kinder darstellt, an den Ministerpräsidenten Heinz Kühn. Sie bittet ihn, eine unabhängige Untersuchungskommission zur Überprüfung einzusetzen. So kann der langwierige Dienstweg, auf dem Gerhard Kroh das Anliegen als Beamter hätte weitergeben müssen, vermieden werden.
Der Ministerpräsident reagiert umgehend. Er übergibt die Angelegenheit dem zuständigen Justizminister. Die Staatsanwaltschaft in Arnsberg nimmt ein Ermittlungsverfahren gegen Bedienstete des St. Johannesstifts in Marsberg wegen Verdachts von Misshandlungen an Schutzbefohlenen u . a. auf. Gerhard Kroh wird vernommen. Er erinnert sich, dass er schon nach sechs Wochen eine informelle Rückmeldung von dem Staatsanwalt bekommen hat:
Der Staatsanwalt sagte mir: Herr Kroh, was Sie da gesagt haben, was den Kindern angetan worden wäre, das stimmt alles. Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Da liegt noch viel, viel mehr vor.
In der Zeit der Untersuchung bekommt Gerhard Kroh, der inzwischen als Sonderschullehrer in Winterberg/Hochsauerland arbeitet, Anrufe von Jungen, die ihm mitteilen, dass sie vom Personal unter Druck gesetzt werden, damit sie nicht aussagen bzw. ihre Aussage zurücknehmen. Dennoch weiß Kroh aufgrund einer Mitteilung des Oberstaatsanwalts, dass einige Jungen sich dem Druck nicht gebeugt haben:
Und das waren so etwa sechs bis acht Jungen im Alter von 13 bis 15 Jahren. Ihre Pfleger machten ihnen klar, wenn sie das nicht zurücknehmen, was sie da gesagt haben, dann würde ihre Personalakte mächtig anwachsen. Die Personalakte, so Gerhard Kroh, entschied über die Frage, ob bei Eintritt des Volljährigkeitsalters eine Entmündigung mit anschließender Verbringung in eine geschlossene Anstalt folgte oder nicht. Er weiß von einigen Fällen zu berichten, dass Jugendliche entmündigt wurden:
Etliche von ihnen hätten auch in die Freiheit entlassen werden können. Und ich vermute, dass auch Leute, Patienten, die sich doch einigermaßen im Leben zurechtfinden würden, dass die auch gerne genommen wurden, um eben als Ersatzpflegekräfte kostenlos in den Erwachsenenanstalten tätig zu sein.
Zu einer Anklageerhebung und einem Gerichtsverfahren ist es nicht gekommen. Die Begründung der Staatsanwaltschaft lautet: Es gibt keine glaubwürdigen, unabhängigen Zeugen. Frau Kroh wird vom Generalstaatsanwalt in Hamm und vom Justizminister gebeten, ihre Anzeige zurückzuziehen, weil die Anklage vor keinem Gericht Bestand hätte.
Unter diesem Druck von oben ziehen die Krohs ihre Anzeige zurück, was sie beide aus heutiger Sicht bedauern. Denn so blieb der Öffentlichkeit bislang verborgen, dass selbst 30 Jahre nach dem Ende der NS- Gewaltherrschaft Kinder und Jugendliche in der Psychiatrie in Marsberg, aber sicher nicht nur dort, immer noch menschenunwürdigen Verhältnissen rechtlos ausgeliefert waren. Zu den Verhältnissen in Marsberg hat der Orden der Vinzentinerinnen von Paderborn bis heute keine Rechenschaft ablegen müssen. Die Landesregierung musste zu keiner Zeit Stellung beziehen zu der Frage, warum die obere Schulaufsicht diese Kinder und Jugendlichen nicht vor grausamer Willkür geschützt hat. Auch der Landschaftsverband Westfalen- Lippe hat diese Etappe immer noch nicht aufarbeiten müssen.
Autorin
Brigitte Schumann