IX. Fort Vernichtungsstätte

Litauen, Verwaltungsbezirk Kaunas, kreisfreie Stadt Kaunas

Unweit von Kaunas, neben der Autobahn in Richtung Klaipeda steht das IX. Fort. Die Kasematten und Baracken der Festung dienten schon dem Regime Smetona als Gefängnis für politische Gefangene. Während der Besetzungszeit hatten die Nazis hier ein KZ mit der Bezeichnung "Fabrik Nr. 1005 B" eingerichtet. In Gräben neben dem Fort wurden massenweise erschossene Menschen verscharrt: zunächst waren es die Juden aus dem Ghetto von Kaunas (etwa 80 000), dann auch aus anderen Ländern, aus Österreich, Belgien, der Tschechoslowakei, Polen, Holland (etwa 10 000), und schließlich russische Gefangene (etwa 10 000). 1984 wurde an dieser Stelle eine gewaltige Gedenkanlage für diese Opfer der Barbarei errichtet.

07.07.1941

Bereits Ende Juni 1941 war das Zentralgefängnis von Kaunas überfüllt. Daraufhin jagte man die Juden ohne Unterschied des Geschlechts und des Alters ins VII. Fort, das sich am nördlichen Stadtrand befand. Hierher wurden auch die jüdischen Flüchtlinge gebracht, die zu Beginn des Krieges versucht hatten, sich evakuieren zu lassen, jedoch unterwegs von der Wehrmacht eingeholt worden waren. Innerhalb weniger Tage trieb man etwa 10 000 Juden - Männer, Frauen und Kinder - in das VII. Fort. Die Frauen und Kinder wurden ohne Nahrung und Wasser in die Kasematten gesperrt, sie durften nicht einmal ins Freie, um ihre Notdurft zu verrichten. Die Sterblichkeit in den Kasematten war hoch, die Toten durften nicht beerdigt werden.
Die Männer und jungen Burschen hielten sie unter freiem Himmel gefangen, in einem tiefen Graben, der die Kasematten von der Außenmauer des Forts trennte. Auf den Wällen, entlang dem Graben und an der Außenseite der Mauer waren Posten aufgestellt.
Die Wachen bestahlen die Gefangenen, sie nahmen ihnen Uhren, Geld und Ringe fort. Kaum hatten sie entdeckt, daß jemand gute Schuhe oder ein neues Jackett trug, führten sie ihn auch schon zum Spaziergang in das Wäldchen, wo sie ihn entkleideten und erschossen.
Vier Tage und Nächte blieben die Menschen ohne Nahrung und Wasser. Auf die nachhaltige Forderung der Häftlinge, sie entweder sofort umzubringen oder aber Nahrung und Wasser herbeizuschaffen, wurde gesalzener Dörrfisch ins Fort gebracht. Die ausgehungerten Menschen stürzten sich mit ihrem Heißhunger auf den Fisch. Danach litten sie natürlich unter noch größerem Durst. Am folgenden Tag brachte man ein Faß Wasser. 5000 Menschen sollten sich in einer Reihe anstellen. Dann erklärten die Wachen, daß sie einem Teil der Leute an einer anderen Stelle zu trinken geben würden. Das war jedoch eine Provokation: Kaum hatten diese Menschen den Bereich des Forts verlassen, als auch schon Schüsse aufpeitschten.
Im Verlaufe eines Tages kamen mehrmals Deutsche aus benachbarten Truppenteilen, um Juden für Arbeiten auszuwählen. Zurückgebracht wurden sie niemals wieder. Jetzt erhaltet ihr eure Belohnung! sagten die Deutschen, wenn sie die Unglücklichen erschossen.
Anfang Juli fand in Kaunas ein Sportwettkampf statt. Die Sieger erhielten als Prämie das Recht, sich im VII. Fort 25 Juden auszuwählen und sie eigenhändig zu erschießen. Die Sportler nahmen die Prämie an. Sie ermordeten die 25 Menschen vor den Augen der anderen Gefangenen.
Am 7. Juli früh wurde bekanntgegeben, daß alle Knaben unter 15 Jahren vortreten sollten. Sie wurden noch am gleichen Tag zusammen mit den Frauen und Kleinkindern aus dem VII. in das IX. Fort übergeführt. Es war ein drückend heißer Tag. Die von Hunger gequälten Frauen, die kaum noch die Füße heben konnten, wurden am Fluß Neris entlang geführt. Sie baten flehentlich, ihren Durst löschen zu dürfen. Die Henker versagten es ihnen. Dutzende Frauen brachen bewußtlos zusammen. Sie wurden auf der Stelle erschossen.
Auch die zurückgebliebenen Männer wurden noch am gleichen Tag erschossen. So endete die Tragödie des VII. Forts.

29.10.1941

Erinnerungen des Überlebenden Solly Ganor
Wir stürzten zum Fenster. Im grauen Licht der Morgendämmerung sahen wir eine endlose Kolonne Menschen den Berg hinaufgehen in Richtung Fort Neun. Eine kilometerlange Menschenschlange. Das hatte nichts von der Grausamkeit der vielen blutigen Szenen, die ich bisher gesehen hatte, und war dennoch tausendmal schlimmer.
Eine unerklärliche Kraft trieb uns zum Ghettozaun, wo schon andere sich versammelt hatten. Bewaffnete Litauer säumten beide Seiten der Straße, so weit das Auge sehen konnte, bereit, jeden zu erschießen, der zu fliehen versuchte. Es ist unmöglich, die Klagen jener zu beschreiben, die ihre Verwandten erkannten. Die Kolonne war so lang, dass der Todesmarsch vom Tagesanbruch bis mittags dauerte. Doch wir ertrugen es nicht lange und stolperten vorher davon.Obwohl das Fort Neun mehrere Kilometer entfernt lag, hörten wir das unmissverständliche Geknatter von Maschinengewehren.
Über das Massaker selbst, das sich im Fort IX, einer alten Befestigungsanlage vor den Toren der Stadt Kaunas, abspielte, gibt es ebenfalls eine anschauliche Schilderung. Denn von den Tausenden konnte ein Einziger überleben. Es handelt sich um einen 13-jährigen Jungen namens Kuki Kopelman, der von seinem Freund Solly Ganor als ein hochbegabtes Wunderkind beschrieben wird. Seine Mutter Vera Schor war eine berühmte Geigerin und sein Vater ein bekannter Schachspieler. Kuki war Junior-Schachmeister, begabter Geiger und außerdem schon ein sehr guter Steptänzer.
Tage nach dem Massaker tauchte Kuki zu nächtlicher Stunde in einem viel zu großen Mantel wieder auf. Ganor schildert in seinen Erinnerungen Das andere Leben diese wunderbare Rückkehr und schrieb auf, was der Freund ihm erzählte. Es ist ein Protokoll des Schreckens. »Deutsche und litauische Wachen«, berichtete Kuki, »standen am Eingang mit Hunden, die an der Leine zerrten, knurrten und wild bellten. Wir wurden durch die Tore getrieben. Im Hof standen Lastwagen mit laufenden Motoren. Manchmal hatten sie Fehlzündungen, und das klang wie Schüsse.
Ein junger deutscher Offizier sprach uns an. Ihr werdet in Arbeitslager im Osten gebracht. Jetzt gibt’s erst mal eine Dusche, und dann bekommt ihr Arbeitskleidung. Zieht euch aus, und legt eure Kleider hier ab. Er sprach in zivilem Ton, und trotz allem, was wir über diesen Schreckensort wussten, ließen wir uns von ihm überzeugen. Doch jeder noch so kleine Hoffnungsfunke war zunichte, als wir die lange Maschinengewehrsalve hörten und die Schreie. Die Deutschen hatten es auch gehört, denn sie richteten ihre Gewehre auf uns. Tempo, ihr Juden! Ausziehen und ab in die Dusche!, rief ein Offizier. Was ihr da hört, sind nur die Fehlzündungen der Laster. Doch niemand bewegte sich, niemand schien fähig, einen Muskel zu rühren. Ruhig ging der Offizier auf einen älteren Mann zu, der in seiner Nähe stand, hob die Lugerpistole und schoss ihm ins Gesicht. Sein Kopf platzte, und das Hirn spritzte in den Dreck, als er zu Boden fiel. Plötzlich zogen sich alle aus. Wenn du dem Tod so nah bist, ist jede Minute kostbar, als würde die nächste Sekunde die Begnadigung bringen. Schließlich standen wir alle nackt da und bedeckten unsere Scham mit den Händen und zitterten in der Kälte.
Auf Befehl eines Offiziers gingen die Deutschen und Litauer auf uns los. In wilder Panik begannen wir zu rennen, die Wachen und Hunde hinter uns her. Man konnte sehen, wie die Körper dampften, als sie uns um die Mauer jagten. Dann bogen wir um eine Ecke und sahen Dutzende und Aberdutzende von Maschinengewehren rings um ein offenes Feld aufgestellt. Sie feuerten in eine riesige Grube. Ich hörte, wie darin geschrien wurde. Ich wurde fast verrückt vor Angst. Ich wollte stehen bleiben, weglaufen, fliehen, doch eine Masse wild stürmender nackter Körper drängte sich um mich wie eine Zwangsjacke. Es war eine Höllenszene. Heisere Rufe, brüllende Kinder und Babys, Hundegebell. Wir hatten die Grube erreicht. Da lagen Tausende von Körpern, einer auf dem andern, die wanden sich und schrien und flehten die Deutschen an, es endlich zu Ende zu bringen. Es war die Hölle, die Hölle.
Kuki wurde in die Grube mit hineingerissen und dort unter Leibern begraben. Mühselig konnte er sich befreien und herauskriechen. Die Mörder saßen im Fort und betranken sich. Kuki fand den Kleiderstoß, den die Todgeweihten zurückgelassen hatten, suchte sich einen großen Mantel heraus und floh über die Felder in Richtung des Kaunaser Ghettos, erst einmal gerettet.

29.11.1941

Am 29.11.1941 treffen mit einem Transport 1005 Menschen aus dem Breslauer Sammellager Schießwerder im litauischen Kaunas ein. Der Transport hat Breslau am 25.11.1941 verlassen. Die Menschen wurden nach ihrer Ankunft zum IX. Fort getrieben und zusammen mit anderern aus Wien von Angehörigen des Einsatzkommandos 3 unter Karl Jäger erschossen. An diesem Tag werden im IX. Fort 1.155 Frauen, 693 Männer, 152 Kinder aus Breslau und Wien an einer Grube erschossen