Familie Tenhumberg

 

Mein Westfalen

Es war ein sonniger Spätherbsttag des Jahres 1844 als ein 47- jähriger Mann

auf der Reise von Paris nach Hamburg bei Hagen mit der Postkutsche ins
Westfälische kam.

Diesen Moment dichtete er zwei Jahre später in seinem Werk

 

Deutschland. Ein Wintermärchen Gott Grüß Euch, Ihr lieben Westfalen ... und

schenk Euren Söhnen ein leichtes Examen, Amen.

 

Das war ein Düsseldorfer, der so über die Westfalen schrieb, Heinrich Heine!
Dieses von Heinrich Heine gegebene Bild der Westfalen hatte eine Geschichte,
die in der politischen und kulturellen Historie Westfalens das angeblich
Rückständige oder vielleicht auch zu kurz gekommene durchschimmern lässt.
In Chiavenna nördlich des Comer Sees, dort wo die Straßen vom Splügenund
Majolapass zusammenlaufen, hatte Kaiser Friedrich 1174 sein Heer und die
großen des Reiches um sich versammelt.
Im 9. Jahrhundert begann dann die Bezeichnung Westfalen, sich auch auf
das Gebiet der Engern und Ostfalen auszudehnen. Es umfasste das ganze
Land zwischen Rhein und Weser.

Dann 200 Jahre später kommt in der Spannung der Italien- Politik Friedrich I.,

Barbarossas, für einen Augenblick der Name des Herzogtums Westfalen aus
dem Unbeachtetsein in den Horizont des geschichtlichen Interesses. Dem
geht eine dramatische Situation voraus, die ich für eine der Schlüsselszenen

im politischen Geschick Westfalens halte.

In Chiavenna nördlich des Comer Sees, dort wo die Straßen vom Splügenund
Majolapass zusammenlaufen, hatte Kaiser Friedrich 1174 sein Heer und die
großen des Reiches um sich versammelt.
Darunter auch den mächtigen Herzog von Sachsen und Bayern,
Heinrich den Löwen, dessen Hilfe er unbedingt für den beginnenden
Feldzug gegen den Papst und die lombardischen Städte brauchte der sich
aber verweigerte.
Da tat der romantische und emotionale Staufer einen Kniefall vor seinem
Vasallen, um ihn umzustimmen.

Alles schwieg betreten, bis die Kaiserin zu ihrem Mann ging und ihn ansprach:

 

Lieber Herr, steh auf, Gott wird dir helfen, wenn du einst dieses Tages und

dieses Hochmuts gedenken wirst.

 

Heinrich der Löwe, der sich nicht umstimmen ließ, weil der Kaiser seiner
Gegenforderung nicht entsprechen konnte, ritt von dannen und
Friedrich der II. verlor die anschließende Schlacht von Legnano.
Aber schon zwei Jahre später 1180 hatte er in Deutschland aufgeräumt
und Heinrich der Löwe musste sich unterwerfen.
Dabei verlor er das Herzogtum Westfalen an den kölnischen Kurfürsten und
das Herzogtum Bayern ging an die Wittelsbacher, die dort ununterbrochen
von 1280 bis 1918 regierten. In Westfalen waren schon vorher die Bistümer
Osnabrück und Münster zu großer politischer Unabhängigkeit erstarkt.
Was der Kölner Kurfürst jetzt bekam, war im wesentlichen das südliche
Westfalen mit den Städten Arnsberg und Soest.
So hat die Geschichte Westfalen schon früh geteilt und als Stiefkind behandelt
und ihm das Glück der politischen Einheit versagt. Aber Stiefkinder müssen
sich wehren und behaupten und entwickeln deshalb oft frühzeitig eine
besondere Vitalität, so auch das Westfalentum.
Das westfälische Selbstbewusstsein erstarkte als bleibende Gemeinsamkeit
in einer Fülle regionaler, politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ereignisse.
Unabhängig von den zerrissenen politischen Herrschaftsverhältnissen, setzte
es sich mit überraschender Zähigkeit immer wieder durch. In allen Quartieren
der Hanse, ob in Brügge, London oder Nowgorod existierten selbstbewusste
westfälische Fraktionen, unabhängig von der heimischen politischen
Situation, ob es sich um eine freie Reichsstadt wie Dortmund handelte oder
von den Fürsten bzw. Bischöfen abhängige Städte oder Bistümer.
Dieser Unterschied störte nicht nur nicht, sondern war zusammen mit der
schwachen Reichsgewalt gerade der Grund, als das Einigende
das Westfalentum herauszustellen.
Ähnliches zeigt die Veme, jenes typisch westfälische Freigericht, das

unabhängig von der Territorialgewalt entstand.

Die Veme zeigt zweierlei.
Einmal die große Energie, die von den westfälischen Freigrafen und Schöffen
ausging, immer da, wo das überkommene Recht und seine Durchsetzung im
ganzen Reich nicht ausreichte, für Recht und Ordnung zu sorgen und zwar
zunächst nur auf handfester, handhafter Tat.
Mit blinkendem Scheine, wie es in den Quellen heißt.
Zum anderen fällt die überhaupt nicht eingrenzte örtliche Zuständigkeit auf,
möglicherweise eine Eigenart des sächsischen Rechts.
Denn auch in Amerika, dessen Recht weitgehend aus dem angelsächsischen
common law kommt, erleben wir, dass plötzlich ein Richter – sagen wir aus
Cincinnatti – über einen Schadensanspruch zu Lasten irgendeines Beklagten
irgendwo in der Welt urteilt.
Die Veme bleibt ein Ausbruch westfälischer Energie, wie sie schon in der
Hanse und ihr vorhergehend und gleichzeitig in der Besiedlung des
Ostdeutschen Raumes zu erkennen ist.
Die Stadtrechte von Soest und Dortmund lieferten die früheitliche Verfassung
für die Städte am Ostseerand.
Im baltischen Adel wimmelte es von westfälischen Namen. So führte ein
Heinrich von Plettenberg als Hochmeister des preußischen Ordens eine
erfolgreiche Verteidigung Livlands gegen Russen und Polen.
Die Dönhoffs in Ostpreußen sind eines der bekannten westfälischen
Geschlechter.
Wenn die Frage gestellt wird, wie hat es die Geschichte mit den Westfalen
gemeint, ist das auch die Frage, wie sich das Selbstbewusstsein des Landes

in der Literatur der Zeit widerspiegelt. Selbstlob ist nicht der Westfalen Sache,

aber immer dann, wenn ein als unberechtigt empfundener Angriff deutlich

wurde, gab es eine kräftige Antwort. So auch auf die wenig glanzvolle
Erwähnung Westfalens in den Schriften italienischer Humanisten, vor allem
des Aeneus Silvius, übrigens der spätere Papst Eneo Silvio Piccolomini, der in
einer viel gelesenen Europabeschreibung Westfalen sehr abwertend und als
eine regio frigido also eine ziemlich kalte Gegend schilderte.
Panemnigrum schwarzes Brot, äßen sie und tränken dabei noch Bier.
Dem späteren Papst hätte also auf einer Reinoldiveranstaltung das dunkle
Brot auch an das gute Bier wohl nicht geschmeckt.
Daraufhin stand 1474 ein wortmächtiger Mann aus Laer im Kreise Steinfurt

auf mit seinem großartigen achtbändigen Werk:

 

de laude antiquae Saxoniae nunc Westfaliae dicta

 

zum Lobe des alten Sachsenlandes, jetzt Westfalen genannt.

Werner Rolevinck, dieser Bauernsohn des Münsterlandes lebte als

Karthäusermönch in Köln und wollte die Ehre seines Heimatlandes retten. Um
seinen Ruhm der Welt zu künden, ruft er das westfälische Selbstgefühl zu
kraftvoller Sprache auf. Er berichtet von dem Reichtum an Bodenschätzen,
den Erzeugnissen des Ackerbaus, der Viehzucht und des Gewerbefleißes, die
die Grundbelage dafür gegeben hätten, dass sich der westfälische Ausfuhr
handel weit über die Meere ausdehne.
Das war eine Stimme des versinkenden Mittelalters.
50 Jahre später mit dem Beginn der Neuzeit erleben wir eine weitere
Renaissance in der Literatur.
Die vom römischen Schriftsteller Tacitus genannten positiven Eigenschaften
der Germanen wurden jetzt von den Humanisten den Westfalen zugeordnet.
Ulrich von Hutten schrieb 1520 an den sächsischen Kurfürsten Friedrich

den Weisen:

 

Wie es bei Tacitus heiße, hätten die Westfalen sich schon einmal als Sieger

über die Weltmacht Rom mit ihrem Anführer Arminius gezeigt.

 

Sogar bis nach England trug der berühmte Erasmus von Rotterdam in

mehreren Briefen an Thomas Morus 1521 das Lob der Westfalen,

 

das viele Männer vom höchsten Geist und keineswegs alltäglicher
Gelehrsamkeit hervorgebracht habe, durch seine Treue und Sittenreinheit,

durch seine schlichte Klugheit und wohlbedachte Einfachheit hervorsteche.

 

Das war für 150 Jahre das letzte Lob aus berufenem Munde.

Mit dem Untergang der Hanse gingen auch die Blüte des Landes und der
Wohlstand der westfälischenStädte dahin.
Der Handel stockte, der Verkehr erlahmte und auf allen Gebieten des
materiellen und geistigen Lebens trat ein Stillstand ein.
Reisende durch das Land schilderten Westfalen als das Boötien

Deutschlands.

Das war bei den alten Griechen die rückständigste Provinz.
Noch Voltaire teilte dieses Westfalenbild. Der große französische Philosoph
folgte 1744 einer Einladung des Preußen- Königs Friedrich II. und reiste von
Compiégne nach Potsdam. Wie es das Unglück wollte, saß er in Brackwede
bei Bielefeld fest. Ob die Kutsche umgefallen oder ähnliches passiert war, ist
nicht bekannt, jedenfalls zogen ihn die westfälischen Bauern aus dem Dreck
und konnten sich vor Lachen nicht halten, als sie den überaus eleganten
Franzosen mit Spitzenjabos an den Ärmeln und seidenen Pluderhosen über
den Knien, mit verrutschter Perücke auf seinen Schnallenschuhen schimpfend
herum springen sahen.
Das hat ihnen der eitle Voltaire nie vergessen. Sein Bericht bei seinem
Gönner Friedrich II. und vor allem sein in Europa viel gelesener Roman mit dem
Titel Candide zeigt in der Hauptfigur einen Westfalen, der zwar eine Fülle
fantastischer Abenteuer in der ganzen Welt zu bestehen hat, der sich aber
durch großes Ungeschick und Tölpelhaftigkeit auszeichnet und nur durch
unvorstellbares Glück immer wieder weiter kommt.
Dazu kam dann noch Voltaires Reiseschilderung, dass die Menschen in

Westfalen mit den Tieren unter einem Dach lebten und wie er schreibt:

 

Schwarz glänzende Steine als Nahrung zu sich nähmen.

 

Sein Bericht von den Pumpernickelessern hat bei Friedrich II. einen
verheerenden Einfluss auf dessen und auch der nachfolgenden
preußischen Könige Vorstellung von den Westfalen gehabt. Da half es auch
nicht, dass in Osnabrück mit Justus Möser ein glänzender Staatsmann und
Historiker aufstand und Westfalen verteidigte. Das Stift Osnabrück, das er als
Kern Westfalens ansah, habe mehr Einwohner pro qm als Frankreich und
nütze sein Ackerland viel ertragreicher und er schildert die Lebensweise der
Westfalen als arbeitsam, wahrhaftig, gesund, unverdorben und vernünftig.
So gut wie gar keine Beiträge lieferte der westfälische Adel. Er blieb
traditions- und standesgemäß am Liebsten unter sich und die Bewahrung
seiner Privilegien war sein Hauptanliegen. Annette von Droste- Hülshoff war
die leuchtende Ausnahme und gleichzeitig vermitteln ihre hinterlassenen
Briefe bleibende Eindrücke vom geringen literarischen Bildungsstand des
Adels.
Die eigene Familie nahm kritischen Einfluss auf ihr Schaffen und ihr Bruder
als Familienhaupt entschied mit darüber, ob und wo die Droste publizieren
durfte.
Wie Annette selbst berichtet, erklärte ihr eigener Vetter Ferdinand von Galen
ihre erste Gedichtsausgabe für reinen Plunder, für Unverständlich und konfus
und er könne nicht begreifen, wie eine scheinbar Vernünftige Person, solches
Zeug habe schreiben können.
Allgemein blieb so das schöngeistige Leben in der westfälischen Metropole
Münster hinter dem anderen deutschen Städte zurück. Die einzige bedeutende
Zeitung in Westfalen war der Westfälische Merkur, der 1821 von den
Buchhändlern Coppenrath in Münster gegründet worden war. Aber während
es die Kölnische Zeitung 1837 auf eine Auflage von 9.000 Exemplaren brachte,
kam der Westfälische Merkur gerade auf 1.600 Exemplare. Die mangelnde
Einheit des Landes und die Zerrissenheit in Konfessionsfragen verhinderte bis
zum Ausgang des 18. Jahrhunderts das Entstehen einer kräftigen

Publizitätswelt, die das ganze Land umfasst hätte.

Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert erschütterten dann die
Französischen Revolutionsheere und Napoleon die bestehende Ordnung in
Europa und in Deutschland und darin auch Westfalen.
Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 löste Westfalen noch weiter
auseinanderstrebend auf. Das säkularisierte Bistum Münster kam an
Preußen, Osnabrück nach Hannover, Dortmund verlor die Reichsfreiheit
und wanderte zu Hessen- Nassau und der Rest des Herzogtums Westfalen,
das Sauerland kam an die Herzöge von Hessen- Darmstadt.
Wie ein historisches Irrlicht erschien dann plötzlich von 1807 bis 1814 ein
Königreich Westfalen auf der Landkarte, das der Bruder Napoleons, Jerome
Bonaparte, von Kassel aus regierte, nur dass dieses Königreich mit Westfalen
kaum etwas zu tun hatte. Es bestand zu 90 % aus hessischen, hannoverschen
und braunschweigischen Gebieten. Nur eins zeigte das Auftauchen dieses

merkwürdigen Königreichs. Der Begriff Westfalen hatte im Bewusstsein der

Zeitgenossen so viel Gewicht, dass er als Grundlage und Name für ein
Königreich tragfähig erschien.
Der Untergang Napoleons und der Wiener- Kongress brachte den Preußen
dann die beiden Westprovinzen Rheinland und Westfalen. Hier haben wir zum
ersten Mal die Zusammenfassung des größten Teils des alten westfälischen
Stammesraums, aber ohne Osnabrück dessen führende Männer sich doch
stets als Westfalen artikuliert hatten und auch ohne das immer als westfälisch
angesehene Niederstift Münster mit den Ämtern Vechta und Cloppenburg.
Essen wurde der Rheinprovinz zugesprochen, obwohl es auch zum
westfälischen Stammesgebiet gehörte.
Die Essener sprachen ein westfälisches Platt und erst westlich von Essen
halbwegs nach Mühlheim schwingt das Westfälische in den rheinischen

Dialekt über.

Doch das Herz der preußischen Könige schlug nicht für die neu erworbene
Provinz. Schon 100 Jahre früher hatte der Vorgänger Friedrichs des Großen,
Friedrich Wilhelm der I., in seinem politischen Testament dem westfälischen

Adel jegliche Begabung abgesprochen. Er schreibt:

 

Was Kleve und Grafschaft Mark ist, sein die Vasallen dumme Ochsen und
malliceus wie der Teufel. Die Nation (damit meint er die Westfalen) ist sehr
intrigrant und sehr falsch dabei und saufen wie die Bester, mehr wissen sie

nicht.

 

Ähnliches finden wir bei Friedrich dem Großen. Das von seiner aufgeklärten
und zynischen Geisteswelt keine Brücke zu den schwerblütigen, frommen
Westfalen bestehen konnte, möchte ich Ihnen an zwei Positionen deutlich
machen: Einmal die wie immer mit einem Hauch von Melancholie dichtende

Westfälin  Annette mit ihrem

 

Schaurig ist es über das Moor zu gehen, wenn das Röhricht knistert im Rauche

 

oder:

 

Kennst du die Blassen im Heideland, mit blonden flächsenen Haaren, mit

Augen so hell wie am Weiersrand, die Blitze der Wellen fahren.

 

Und dagegen Friedrich II. mit seinem Zynismus der in seinen Marginalien auf
dem Rand der Akten landete. Als ihm sein Wiener Gesandter nach der Teilung
Polens zwischen Russland, Preußen und Österreich vom schlechten

Gewissen der frommen Maria Theresia berichtete, schrieb er auf den Rand:

sie weint aber sie nimmt
Als ihm eine protestantische Gemeinde schrieb, sie möchte einen anderen
Pfarrer haben, denn der jetzige glaube nicht an die Auferstehung des

Fleisches am jüngsten Tage, schrieb der König nur an den Rand:

 

1) Der Pfarrer bleibt.

2) Wenn er am jüngsten Tage nicht aufstehen will, kann er ruhig liegen bleiben.

 

Als ihm ein Westfale zu einer Ratsstelle empfohlen wurde, schrieb er nur an

den Rand:

 

dieser kann es nicht werden, denn die Westfalen haben kein Genie.

 

Dieses negative Image änderte sich erst, als der Freiherr Ludwig Vincke, der
zurückgezogen auf seinem Gut in Ickern bei Hamm lebte, zunächst zum
Generalkommissar für die gesamten neuen Westgebiete und später zum
Oberpräsidenten für die neue Provinz Westfalen bestellt wurde. Er hatte eine
Riesenaufgabe, hier eine geordnete Verwaltung aufzuziehen und tat dies mit
größtem Erfolg. Dabei waren die regionalen Vorstellungen für eine einheitliche
Provinz Westfalen bei Ludwig Vincke wesentlich umfassender. Zwar gewann
er 1817 das Siegener Gebiet, das vorher nassauisch-oranisch war, hinzu, aber
um das große reiche Osnabrück kämpfte er vergebens. Die Stadt ging 
endgültig an Hannover.
Hier haben wir es wieder einmal mit einer historischen Weggabelung zu tun,
in dem das Westfalentum den Kürzeren zog. Mit Osnabrück und dem 
Niederstift Münster, mit Vechta und Cloppenburg, wäre Westfalen Kraft
seiner schieren Größe sicher ein selbständiges Land geblieben und nicht wie

heute in Nordrhein Westfalen hinter dem Bindestrich gelandet. Dasselbe gilt

für das eigentlich westfälische Essen. Die Einstellung Preußens zur neuen
Provinz gibt eine Verordnung zur Personalpolitik von 1815 zu erkennen.

Darin heißt es,

 

Das neben kundigen Offizianten– also alten preußischen Beamten – vorzüglich

auch Eingeborene

 

angestellt werden sollten, welche geeignet seien, die preußische Regierung
beliebt zu machen. Das Wort Eingeborene hatte damals durchaus den gleichen
kolonial- verfremdenden Akzent wie heute und man bedenke, bei aller
Integration der Provinz in den preußischen Staat waren von den neun
Oberpräsidenten der Provinz von 1815 bis 1919 nur zwei aus Westfalen
stammend. So sehr die in der Industrialisierung aufblühende Provinz zum
Steueraufkommen Gesamt- Preußens beitrug, so wenig wurde davon die
Kultuspolitik Preußens beeinflusst. Die katholischen Universitäten in Münster
und Paderborn und die protestantische hohe Schule in Burgsteinfurt wurden
von den Preußen aufgehoben. Der Kaiser Wilhelm zugeschriebene Satz:
Im Ruhrgebiet - und das war ja zum erheblichen Teil westfälisch – keine

Kasernen und keine Universitäten, ist zwar historisch nie nachgewiesen

worden.
Er spiegelt aber die kulturelle Vernachlässigung Westfalens wieder. Die 1898
einsetzenden und in den 20er Jahren noch einmal wiederholten Bemühungen
der Industrie- und Handelskammer zu Dortmund, um eine technische
Hochschule, wurde auch 1922 noch einmal im Hinblick auf Aachen
abgelehnt, weil nach dem verlorenen Krieg der Aachener Raum als Grenzraum
anzusehen und zu schützen sei. Ähnliches galt für die Verkehrspolitik. Beim
Aufkommen der Eisenbahnen in Westfalen kamen die Anregungen und auch
die Finanzierungen für die Köln Mindener und für die Märkische Eisenbahn
aus dem Raum selbst. Preußens Hauptstadt Berlin, gleichzeitig
Reichshauptstadt, hatte schon vor dem 1. Weltkrieg ein hochmodernes

S- und U- Bahn- Netz, während im Ruhrgebiet, eigentlich ein ähnlich

geballtes Siedlungsgebiet wie Berlin, und wo das Geld verdient wurde, nichts
ähnliches geschah. Wenig im Sinn mit den Westfalen hatte der letzte preußische
König und Kaiser Wilhelm II. Die Hast mit der er den Besuch 1899 bei der
Hafeneröffnung in Dortmund absolvierte war fast eine Beleidigung für die
Honorationen und die Bürger der Stadt, die ihm einen solch begeisterten
Empfang geboten hatten. Schroff und nicht mit einem Hauch von fürsorglichem

Empfinden, so auch 1899 der Empfang der Delegation der westfälischen

streikenden Bergleute durch den Kaiser, der ihre Anliegen ungeduldig anhörte
und denen er mit Armee und Polizei drohte, wenn sie ihre Arbeit nicht wieder
aufnähmen. Da war es ein Balsam für die Seelen der 3.000 zu Bismarcks
85. Geburtstag erschienenen gratulierenden Westfalen, als ihnen der alte

Kanzler ein großes Kompliment machte.

 

Er sei überzeugt davon, dass Hermann der Cherusker, der Retter Germaniens,

den Dialekt Ihrer Heimat gesprochen hätte.

 

Nun, Arminius im westfälischen Platt seinen Angriff kommandierend, ist zwar
ein nettes Kompliment, aber bei den vielen Stammesverschiebungen in den
folgenden Jahrhunderten doch etwas zweifelhaft. Bis zum Untergang
Preußens 1932 blieb die Provinz gut verwaltet aber weiterhin vernachlässigt
durch die fehlende Ansiedlung von wissenschaftlichen Instituten oder gar
Universitäten. Was den Bestand des Westfalentums heute innerhalb des 1946
geschaffenen Landes Nordrhein- Westfalen angeht, haben wir für ein 
endgültiges Urteil noch keine historische Distanz, aber wir haben einige Signale,
die unsere Aufmerksamkeit verlangen. Obwohl es nach Einwohnerzahl und
Fläche größer ist als zwei Drittel unserer Bundesländer hat es die Geschichte
nicht gewollt, dass wir ein selbständiges Land haben. Wir haben in der früheren
Provinzialhauptstadt Münster nur noch Reste der alten Provinzverwaltung, aber
an deren Spitze haben gerade aus Dortmund kommende Persönlichkeiten, wie
der erste Landeshauptmann Salzmann oder die Landesdirektoren Manfred
Scholle und Wolfgang Schäfer, die eigenständige Kultur unseres Landes mit
den zur Verfügung bleibenden Mitteln zäh verteidigt. Dazu kommt die sehr 
aktive von großzügiger privater Hand eingerichtete Westfalenstiftung.
Gleichwohl hat sich in der Benachteiligung Westfalens gegenüber dem
Rheinland mit seiner Medienkonzentration wenig geändert. Eine von der IHK
Dortmund erbetene Untersuchung der letzten 20 Ausgaben des NRW Teils in
der Welt am Sonntag hat ergeben, dass darin Berichte über Ereignisse

in Westfalen nur halb so oft vorkommen, wie über die des Rheinlandes. Für die

Städte Düsseldorf und Dortmund liegt das Verhältnis der Berichte und
Erwähnungen bei 115 : 21.
Eine bei dem Marketing-Papst Prof. Meffert in Münster vorgelegte Dissertation
über Westfalen als Marke arbeitet heraus, wie positiv die Begriffe: westfälisch
und Westfalen besetzt sind, und zwar außerhalb Westfalens noch mehr als im
eigenen Lande. Das ist ein Zeichen für die übertriebene westfälische

Bescheidenheit.

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie das Westfalenlied beginnt? Es beginnt:
Ihr mögt den Rhein den stolzen preisen, der in dem Schoß der Reben liegt, und
kommt dann erst später umständlich und fas entschuldigend auf Westfalen zu
sprechen.
So geht es nicht! Mit dem zweiten Platz kann man keine Werbung machen. Weil
er eine Anregung geben wollte, hat auch Wolfgang Clement noch vor einigen
Jahren erklärt: Westfalen habe im Gegensatz zum Rheinland keine Leuchttürme.
Nun Leuchttürme: Der Prinzipalmarkt in Münster bringt die dichteste
Atmosphäre mittelalterlicher Stadtschönheit, wie man sie sich nur vorstellen
kann. Das Bochumer Schauspielhaus hat internationalen Rang, das

Dortmunder Musiktheater war immer mehr als eine Provinzbühne und mit dem

Konzerthaus haben wir einen weitstrahlenden und einladenden Leuchtturm,
von dem wir hoffen, dass es durch den unglücklichen Abgang seines Schöpfers
nichts einbüßt.
Mit unserer IT- Szene, insbesondere mit dem Technologie- Zentrum und dem
Technologie-Park, haben wir eine in Deutschland nicht erreichte Erfolgsstory,
mehr als wir je zu hoffen wagten als wir uns mit ihrer Gründung befassten. Die
Westfalenhalle hat ihren großen, überregionalen Ruf behalten und da in
Dortmund alles – so auch ich – mit Borussia endet, auch dieser Leuchtturm
wird wieder ins Land strahlen, insbesondere nachdem wir die Leuchtturmwärter
ausgewechselt haben. Das Requiem aus Kohle und Stahl haben wir
ausgesungen. Wobei wir wissen, dass die Dirigenten für die Stahlseite dieser

Trauermesse im Rheinland, in Düsseldorf und Essen saßen.