Justin Eva Hedwig

nationalsozialistische Rassenforscherin


Geb.Datum
23.08.1909

Geb.Ort
Dresden

Adresse

Schule/Ausbildung
1933 Abitur am Luisenstift Dresden-Kötschenbroda
1934 Lehrgang für Krankenschwestern

Beruf
Anthropologin

Gest.Datum
11.09.1966

Gest.Ort
Offenbach am Main

Dienstgrad

NSDAP Mitgliedsnr.

SS-Mitglieds-Nu.

Auszeichnungen

Einsatz
Ab 1936 Stellvertreterin des Leiters der Rassenhygienischen und Bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt (RHF)
Nach 1943 wissenschaftliche Assistentin in der RHF
ab März 1948 Kriminalpsychologin und Sachverständige für schwer erziehbare Kinder beim Jugendgesundheitsamt der Stadt Frankfurt
ab 1964 Angestellte der Universitäts-Nervenklinik in Frankfurt am Main


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Eva Justin wurde als Tochter des Reichsbahnbeamten Karl Justin und seiner Ehefrau Magarethe geb. Ebinger in Dresden geboren. Bereits 1925 wurde sie Mitglied im Jungdeutschen Orden.

Das Abitur machte sie im Alter von 24 Jahren 1933 am Luisenstift Dresden-Kötschenbroda. Ab 1934 nahm sie an einem Lehrgang für Krankenschwestern teil und wurde von Robert Ritter an die Universitätsnervenklinik in Tübingen geholt. Im Jahr 1936, als Ritter als Leiter der Rassenhygienischen und Bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt (RHF) berufen wurde, nahm er Justin mit und machte sie zu seiner Stellvertreterin. Sie immatrikulierte sich am 2. November 1937 in Berlin.
Justin, die Romanes beherrschte, erwarb sich das Vertrauen mancher Roma und Sinti.
Justin konnte kein abgeschlossenes Universitätsstudium vorweisen. Um ihr dennoch eine Promotion zu ermöglichen, setzte man sich in ihrem Fall mehrfach über Formalien hinweg.
Ein ursprünglich von ihrem Hochschullehrer Kurt Gottschaldt vorgeschlagenes Thema ignorierte sie und brach auch die Besuche seiner Vorlesungen ab. Anfang März 1943 legte sie stattdessen eine Arbeit Lebensschicksale artfremd erzogener Zigeunerkinder und ihrer Nachkommen vor, ein Thema, das mit keinem Professor der Universität vereinbart worden war. Ihre Promotion bedurfte also prominenter Unterstützung. Sie besuchte, von Robert Ritter unterstützt, den emeritierten Eugeniker und ehemaligen NS-Rektor der Berliner Universität Eugen Fischer bei einem Kuraufenthalt in Baden-Baden. Fischer schrieb am 4. März 1943 einen Brief an seine alte Universität. Damit wurde Justin von der Psychologiestudentin zur Anthropologin. Am 12. März nahm die Uni die Dissertation an. Als indirekter Doktorvater sprang Ritter ein, der nicht zur Betreuung von Dissertationen berechtigt war. Gutachter der Dissertation waren Richard Thurnwald und Ritter, abschließend Fischer.
In ihrem Schreiben zur Promotion berief sich Justin auf weitere Protektion von Hans Reiter, dem Leiter des Reichsgesundheitsamtes, Herbert Linden vom Reichsministerium des Innern und Paul Werner, der im Reichskriminalpolizeiamt für vorbeugende Verbrechensbekämpfung zuständig war.

Die mündliche Prüfung fand am 24. März zwischen 9:15 und 10:15 in Ritters Privatwohnung statt; Fischer, der Justin in Anthropologie u.a. über Rothaarige prüfte, unterbrach dafür seine Kur. Wolfgang Abel führte eine weltanschauliche Besprechung durch, der Völkerkundler Thurnwald befragte sie zu afrikanischen Wildbeutervölkern. Fischer gab ihr ein knappes gut, Abel: sehr gut, Thurnwald: gut.
Die völkerkundliche Feldforschung (Thurnwald) fand im Frühherbst 1942 für 6 Wochen im katholischen Kinderheim St. Josefspflege in Mulfingen statt. Dort waren unter den ca. 70 Heimkindern 40 Sinti zwischen 7 und 16 Jahren, die aufgrund verschiedener behördlicher Zwangsmaßnahmen zusammengezogen worden. Die deutschen und jenischen Kinder des Heimes wurden von Justin nicht beachtet. Grundlage für die Zusammenführung in diesem Heim war der württembergische Heimerlass für Zigeunerkinder vom 7. November 1938.
Ein Teil der Eltern war aufgrund Himmlers Asozialenerlasses vom 14. Dezember 1937 ins KZ eingewiesen, weitere Eltern waren durch andere Maßnahmen ohne Kinder deportiert worden oder Kinder waren aufgrund der Denunziation einer NSV-Fürsorgerin ihren Eltern entzogen und der Heimerziehung zugeführt worden.
Auf die Kinder wurde zunächst Himmlers Auschwitz-Erlass vom 16. Dezember 1942, der die Deportation aller Sinti und Roma verfügte, nicht angewendet. Die Rohabzüge der Dissertation wurde am 5. November 1943 verschickt, die endgültige Druckfassung am 9. März 1944 ausgeliefert. Damit war Justins Promotionsverfahren abgeschlossen.
In ihrer Dissertation kam Justin zu dem Ergebnis, dass Zigeuner durch ihre mangelhaften Anpassungsfähigkeiten in der Regel doch mehr oder weniger asozial würden. Fast alle Zigeuner und Zigeunermischlinge sind durch eine mehr oder weniger große Haltschwäche gefährdet. Es würde immer neues minderwertiges Erbgut in den deutschen Volkskörper einsickern. Das deutsche Volk braucht aber zuverlässige und strebsame Menschen und nicht den zahlreichen Nachwuchs dieser unmündigen Primitiven. Aus diesen Gründen trat sie vehement für die Zwangssterilisation von Sinti und Romafrauen ein.


Kinderheim St. Josefspflege in Mulfingen

Schreiben an das Bischöfliche Ordinariat Rottenburg-Neckar vom 8.5.1944
Der Leiter der Josefspflege Mulfingen, Pfarrer Volz, teilt dem Caritasverband mit, daß in nächster Zeit 30 Zigeunerkinder wegkommen sollen. Dadurch wird die Anstalt ziemlich unterbelegt. Er bittet den Caritasverband darauf hinzuwirken, daß durch die entsprechenden Behördenstellen eine Vollbelegung wieder raschestens erfolgt.

Am 9. Mai 1944 wurden 39 Kinder aus einem katholischen Kinderheim, der Heiligen St. Josefspflege in Mulfingen (Württemberg), in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Es handelte sich um einen der letzten größeren Transporte von Sinti-Kindern aus dem Reichsgebiet. Die Deportation ist Teil des jahrzehntelang verdrängten und vergessenen Holocaust an über 500.000 Sinti und Roma im nationalsozialistisch besetzten Europa. Im Gegensatz zu anderen Sinti-Kindern, die damals aus katholischen Kinderheimen direkt an die SS ausgeliefert wurden, waren die Kinder aus der St. Josefspflege über ein Jahr lang von der Endlösung, von Himmlers Auschwitz-Erlass ausgespart geblieben. Diese Ausnahme hatte einen besonderen Grund: Die Kinder dienten der Rassenbiologin Eva Justin als Untersuchungsobjekte für ihre Doktorarbeit. Nach Abschluss des Promotionsverfahrens kam der Befehl aus dem Reichssicherheitsamt. Die St. Josefspflege musste die sinti-Kinder zur Deportation bereitstellen. In Crailsheim wurden die Kinder von den Schwestern an die SS übergeben, in einem Güterwaggon nach Auschwitz transportiert und in der Nacht zum 3. August 1944 vergast. Nur vier ältere Kinder vom KZ-Arzt Mengele als Sklavenarbeiter für die Rüstungsproduktion bestimmt haben überlebt.

Amalie Schaich war eines dieser Sinti-Kinder. Ihre Eltern wurden, wie viele andere schon, nach Auschwitz verschleppt. Sie wurde zur Waise erklärt und kam mit weiteren Sinti-Waisen in die St. Josefspflege, einem katholischen Kinderheim in Mulfingen. Dort sollten die Kinder der makaberen Doktorarbeit von Eva Justin dienen, die an den Kindern rassenbiologische Untersuchungen vollzog. Ziel war es, den Unterschied zwischen Ariern und Sinti zu ermitteln und zu dokumentieren. Die Untersuchungen sollten dem Reichssicherheitshauptamt als Grundlage für die Deportationsplanung dienen.


Nach 1943 arbeitete Eva Justin weiter als wissenschaftliche Assistentin in der RHF. Dort unterzeichnete sie allein zwischen Februar und Oktober 1944 1.320 Rassegutachten. So schrieb sie an die staatliche Kriminalpolizei Berlin am 10. Juli 1944 über die rassische Zuordnung einer Familie von fünf Musikern aus Ungarn:
Während das Äußere der Familienangehörigen nicht gerade typisch zigeunerisch ist, sondern abgesehen von der Mutter an Neger-Bastarde denken läßt, sprachen Gestik, Affektivität und Gesamtverhalten nicht nur für artfremde, sondern gerade auch für zigeunerische Herkunft. Die unechte Art scheinbar urbanen Auftretens, die Anpassung an sich flacher emotioneller Regungen an die jeweilige Umweltwirkung, die Uneinsichtigkeit und Urteilsschwäche gegenüber sachlichen Erwägungen und Folgerungen, die Standpunktlosigkeit und Unfestigkeit innerer Stellungnahme zeugen bei aller Schläue und Verschlagenheit von einer im Kern vorhandenen hochgradigen Naivität und Primitivität, wie man sie in dieser gelockerten Art bei sesshaften Europäern mit gezüchtetem Arbeitssinn nicht trifft.
1943 waren Ritter und Mitarbeiterinnen kriegsbedingt von Berlin nach Fürstenfeld umgezogen. In Fürstenfeld hatten sie in einer Führerschule der Sicherheitspolizei neues Quartier gefunden. Am anderen Ortsende von Fürstenfeld lag das Frauenkonzentrationslager
Ravensbrück. In den Jugendschutzlagern Moringen für männliche und Uckermark für weibliche Häftlinge waren Ritter und Justin für die Begutachtung der Jugendlichen zuständig.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bezeichnete Justin sich im Fragebogen des Entnazifizierungsverfahrens als politisch nicht belastet und gab lediglich die Mitgliedschaft/-arbeit im Roten Kreuz und der Arbeitsfront zu.
Im März 1948 wurde sie, obwohl sie niemals psychologisch mit Kindern gearbeitet hatte und auch kein Examen oder einen anderen Abschluss in Psychologie besaß, als Kinderpsychologin in Frankfurt am Main angestellt. Ihr Vorgesetzter war wiederum Robert Ritter, der seit dem 1. Dezember 1947 für die Stadt Frankfurt arbeitete. In der Folgezeit erstellte sie psychologische Gutachten schwererziehbarer Kinder. Justin und Ritter verwendeten zu dieser Zeit ihre Arbeitskraft auch darauf, die von ihnen unterschlagenen Akten des Reichsgesundheitsamtes, also die Planungsunterlagen des Völkermordes an Sinti und Roma, an Polizeibehörden und ehemalige Mitarbeiter der Forschungsstelle weiterzugeben.
1958 richteten sich die Ermittlungen der Frankfurter Staatsanwaltschaft gegen Justin. Die Staatsanwaltschaft verkündete, das Verfahren solle die nationalsozialistischen Vernichtungsmaßnahmen gegen Zigeuner aufklären. Trotz umfangreicher Beweiserhebung konstatierte die Staatsanwaltschaft, dass die von Eva Justin angefertigten Rassenhygiene-Gutachten über Sinti und Roma die Grundlage für die Deportation nach Auschwitz und deren anschließende Ermordung gewesen seien, doch glaubte man nicht nachweisen zu können, dass Justin die Folgen ihres Tuns gekannt hätte. Andere zweifelsfrei bewiesene Handlungen, wie die Zwangssterilisation wurden als verjährt eingestuft. Im Dezember 1960 stellte die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gegen Justin ein.
1963 trat Justin zum katholischen Glauben über. Justin nahm 1964 Feldforschungen in einem Wohnwagen beziehungsweise sogenannten Zigeunerlager bei Frankfurt-Bonames vor und war danach als Angestellte der Universitäts-Nervenklinik in Frankfurt am Main tätig. Im September 1966 starb sie an Krebs.

Nach dem Krieg blieb das Schicksal der Zigeuner weithin unbetrauert, ja unbekannt, bilanzierte der Kulturanthropologe Joachim S. Hohmann.


Zeugenaussagen

Amalie Schaich:
In Ravensbrück war ich auch Zeuge, wie die SS-Ärzte junge Sinti-Mädchen zwangssterilisiert haben. Sie wurden von den Blöcken abgeholt um operiert' zu werden das ist abgelaufen wie auf einer Schlachtbank. Die Mädchen haben so sehr geschrieen, dass ich mir die Ohren zugehalten habe, weil ich es nicht mehr ertragen konnte. Das Schlimmste war, dass viele Mädchen jünger waren, als sie sich ausgegeben haben. Wir lebten ja in ständiger Furcht, dass die Kinder erneut ausselektiert und nach Auschwitz zurückgeschickt werden. Von einem Kind, das sterilisiert worden ist, wusste ich, dass es erst sieben Jahre alt war.

Germaine Tillion:
während einige Deutsche als eine Form individueller Bestrafung sterilisiert werden konnten, waren als Gruppe nur die Zigeunerinnen Gegenstand einer solchen Behandlung, eine nach der anderen sogar die jüngsten Mädchen.

Zeuge:
So zum Beispiel sterilisierte er (der SS-Arzt Dr. Sonntag) die Zigeunerkinder. Ich hörte das Schreien dieser Kinder zwischen neun und elf Jahren, die nach dieser Sterilisierung starben. Ich selber führte zwei Kinder zwischen neun und elf Jahren, die nach dieser Sterilisierung über die Lagerstraße wankten, auf ihren Block, diese Kinder wurden später (ein bis zwei Tage) tot in ihren Betten aufgefunden.

Eine ehemalige Inhaftierte über den brutalen Alltag im Jugendkonzentrationslager Uckermark: Bei uns oben waren einige Zigeunerinnen, sehr jung. Da war ein Zwillingspärchen, das sie sehr viel geschlagen haben. Warum? Einfach, weil sie Zigeuner waren. Wir haben die Mädchen hier abends beim Duschen gesehen, wie sie grün und blau waren. Vor allem die kleinen Zigeunermädchen, aber auch die anderen.

Aus welchem Grunde töteten Sie Zigeuner? fragte beim Einsatzgruppen-Prozess in Nürnberg der amerikanische Ankläger James E. Heath den SS-Gruppenführer Otto Ohlendorf. Antwort: Es ist ebenso wie mit den Juden. Sie hatten Spionageorganisationen während des Krieges.
Heath, ungläubig: Die Zigeuner hatten das? Ohlendorf: Besonders die Zigeuner. Ich möchte Sie erinnern an die ausführlichen Beschreibungen des Dreißigjährigen Krieges von Ricarda Huch und Schiller.

Auch der Bundesgerichtshof trug zeitweise dazu bei, daß die Lernfähigkeit der bundesdeutschen Gesellschaft (Zimmermann) nicht allzustark in Anspruch genommen wurde. In einer später korrigierten Entscheidung legten Deutschlands höchste Richter den Beginn einer rassistischen Verfolgung erst auf den Tag des Auschwitz-Befehls fest, alle Erlasse zuvor seien kaum anfechtbare polizeiliche Vorbeugungs und Sicherungsmaßnahmen gewesen.
Die willfährigen Polizisten blieben ebenso unbehelligt wie die Wissenschaftler. Die Ritter-Mitarbeiterin Sophie Ehrhardt wurde in Tübingen Anthropologie-Professorin, ihre Kollegin Eva Justin Kriminalpsychologin und Sachverständige für schwer erziehbare Kinder.
Selbst der Zigeunerforscher Ritter blieb dem Staate erhalten. Die Stadt Frankfurt bestellte ihn 1947 zum Leiter der Fürsorgestelle für Gemüts- und Nervenkranke und zum Jugendpsychiater.

Unbehelligt blieben auch die Fachkräfte der Polizei. Den behördlichen Umgang mit Angehörigen der Minderheit übernahmen viele Beamte, die schon im Reichssicherheitshauptamt ihre Erfahrungen bei der Zigeunerverfolgung gesammelt hatten. Die Dienststelle für Landfahrer in München, vor 1945 für die Deportation bayerischer Sinti und Roma zuständig, setzte ihre Arbeit einfach fort und benutzte bis in die 60er Jahre Akten des Ritter-Instituts. 1962 erschien ein offizieller Leitfaden für Kriminalbeamte, in dem Sinti und Roma nach wie vor eine ausgeprägte Arbeitsscheu unterstellt wird.

Dem Urteil des Bundesgerichtshofes (BGH) vom 07.01.1956 zufolge galt nur die Haft in Lagern ab 1943 als rassische Verfolgung. Unterstützt wurde die Einstufung der NS-Zigeunerverfolgung als kriminalpräventive Maßnahme durch die Arbeiten von Hans Joachim Döring und dem Amtsarzt Hermann Arnold, langjähriger Beauftragter der Bundesregierung für Zigeunerfragen. Arnold publizierte seit den 50er Jahren zahlreiche Arbeiten und Aufsätze, teilweise fußend auf NS-Material, in denen er die Sprache der Rassenforscherinnen und ihr Gedankengut übernahm. Noch in den 70ern und zu Beginn der 80er Jahre pflegten Sozialarbeiterinnen, Seelsorger und Wissenschaftlerinnen, die Konzepte für die Bundesregierung und die Kirchen entwarfen, einen engen Kontakt zu Arnold. Unter dem Deckmantel bemühter Reformerinnen verbarg sich oft rassistisches Gedankengut.


Verfolgung und Ermordung von Sinti und Roma wurden in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft geleugnet oder als kriminalpräventive Maßnahme gegen als asozial bezeichnete Zigeuner dargestellt. Wiedergutmachungszahlungen wurden ihnen zum größten Teil vorenthalten. Ausgebürgert, ihrer sozialen und ökonomischen Existenz beraubt, von den grauenhaften Erfahrungen in den Lagern traumatisiert, kehrten die Überlebenden in ihre Heimat zurück. Dort erfuhren sie die anhaltende Wirksamkeit antiziganistischer Vorurteile und eine Ausgrenzungspolitik, die weiterhin auf der NS-Rasseideologie beruhte. So begründete der Bundesgerichtshof am 7. Januar 1956 die Ablehnung von Entschädigungen für Sinti und Roma damit, dass sie nicht aus Gründen der Rasse, sondern aufgrund ihrer asozialen Eigenschaften verfolgt worden seien.
Das Bundesentschädigungsgesetz schloss Roma und Sinti in mehrerlei Hinsicht von Entschädigungsansprüchen aus: Nur diejenigen Personen, die ihren Wohnsitz im Gebiet des früheren Deutschen Reichs gehabt oder zumindest zum deutschen Sprach- und Kulturkreis gehört hatten, und aus Gründen der politischen Überzeugung, des Glaubens oder der Rasse verfolgt worden waren, waren anspruchsberechtigt. Diese Voraussetzungen wurden den Roma und Sinti rundweg abgesprochen auch wenn diese zum Teil deutsche Staatsbürgerinnen (gewesen) waren und/oder sich seit Generationen auf deutschem Gebiet niedergelassen hatten.


Auch in der DDR hatten Sinti und Roma Schwierigkeiten, eine Ehrenrente als Verfolgte des NS-Regimes zugesprochen zu bekommen. 1963 wurde das BGH-Urteil revidiert, doch erst in den letzten Jahren konnte die Anerkennung für Haftzeiten in den städtischen und kommunalen Zigeunerlagern durchgesetzt werden. Manche Sinti und Roma nennen daher die Wiedergutmachungspolitik verbittert die zweite Verfolgung.
die Planer, Organisatoren und Vollstrecker des Völkermords an den Sinti und Roma blieben ungestraft und konnten nach dem Krieg ihre Karrieren unbehelligt fortsetzen; beispielsweise Paul Werner, SS-Standartenführer und für die Planung der Maideportationen zuständig, machte bis in die 60er Jahre hinein Karriere als Ministerialbeamter in Baden-Württemberg;
Die rassenideologische Begründung des Völkermords an Roma und Sinti wurde außerdem noch bestritten: Der Kommentar zum Entschädigungsgesetz legte fest, dass jegliche Verfolgung vor 1943 bis zu ihrer Deportation nach Auschwitz ausschließlich aus kriminalpolitischen Gründen erfolgt sei. Die Zwangseinlieferungen in sog. Zigeunerlager im Deutschen Reich, die Deportationen in das besetzte Polen 1939/40, Zwangsarbeit, Massen-Erschießungen, medizinische Versuche, seien aufgrund der asozialen Eigenschaften der Zigeuner erfolgt.
Am 18. Dezember 1963 revidierte der Bundesgerichtshof diese Entscheidung zum Teil: Roma und Sinti wurde zugestanden, dass in Folge des Himmler-Erlasses vom 08.12.1938, der die endgültige Lösung der Zigeunerfrage aus dem Wesen der Rasse heraus ankündigte, in Einzelfällen rassenideologische Motive bei der Verfolgung und Ermordung der Angehörigen der Roma und Sinti mitursächlich gewesen seien.
Der Bundestag eröffnete nach dieser Revidierung eine erneute Antragsmöglichkeit für diejenigen Verfolgten, die die rassistische Motivation ihrer Verfolgung vor 1943 nachweisen konnten. Die Beweislast lag auf Seiten der Opfer. Eine Mindestzeit in bestimmten offiziell anerkannten Lagern und Ghettos musste nachgewiesen werden wobei so genannte Zigeunerlager oftmals nicht anerkannt wurden. Ansprüche wegen Gesundheitsschäden aufgrund von Zwangssterilisationen und medizinischen Experimenten wurden abgelehnt. Als Amtsärzte wurden bis in die 60er Jahre ehemalige NS-Ärzte und Gutachter herangezogen. Behörden und Ämter benutzten die umfangreichen NS-Akten, um die Verfolgung kriminalistisch zu begründen und Entschädigungsansprüche abzuwehren.
Ab 1979 forderte die sich formierende Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma öffentliche Aufmerksamkeit für diese unerträgliche Situation. Mit einem Hungerstreik in der KZ-Gedenkstätte Dachau 1980 wurde die Forderung unterstrichen, die Ritter'schen Rasse-Gutachten und die Akten der Zentralstelle in München an die Betroffenen herauszugeben. Diese Unterlagen wurden schließlich dem Bundesarchiv in Koblenz übergeben.


Verhalten der Behörden nach 1945 bis in die Gegenwart

Nach Kriegsende sind wir mit Pferd und Wagen nach Karlsruhe gefahren. Dort haben wir unsere Verwandtschaft gesucht. Und dann sind auch welche nach Gräfenhausen rüber. Aber unsere Hütten waren weg, die standen nicht mehr. Alle unsere Sachen waren weg, unsere Möbel so beschrieb Theodor Weiss seine Rückkehr aus Polen nach Karlsruhe.

In Gräfenhausen (Pfalz) waren die Sinti und Roma nicht willkommen. Der dortige Bürgermeister, der sich schon aktiv an der Mai-Deportation 1940 beteiligt hatte, schrieb 1952 folgendes an den Landrat des Kreises Bad Bergzabern: Ich bin strikt dagegen, daß die Zigeuner wieder in Dorfesnähe angesiedelt werden, es würden wieder die gleichen Zustände wie vor 1939 entstehen. Die Bürger meiner Gemeinde müssen hart um ihr tägliches Brot kämpfen und die Zigeuner wollen sich auf Kosten anderer ernähren; da muß man wahrhaft alle Humanität ausschalten. Abschließend möchte ich nochmals betonen, daß ich eine Niederlassung der Zigeuner nicht dulde und dies mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, zu verhindern suche.


Während hier politische Funktionsträger ihren offenen Haß gegenüber den Opfern in kommunalpolitische Machtbekundungen transformierten, waren andererseits behördliche Sachwalter damit beschäftigt, das alte NS-Unrecht in neue Verordnungen zu übersetzen, wie beispielsweise der Hamburger Kriminalinspektor Jehring, der sich nach Kriegsende offen auf NS-Verordnungen gegen die Zigeunerplage bezog: Im September 1945 kam er mit dem Leiter der Zentralbetreuungsstelle für ehemalige KZ-Häftlinge bei der Hamburger Polizei überein, dem Rechtsausschuß des Senats Vorschläge zur Zigeunerpolitik zu unterbreiten, die dem Festsetzungserlaß vom 17. Oktober 1939 nachgebildet waren. Danach sollten die Zigeuner in Hamburg so untergebracht werden, daß sie von der Polizei ständig beobachtet werden könnten. Falls sie versuchen sollten, ihre Unterbringungsstelle zu wechseln, seien sie ebenso wie bettelnde oder wahrsagende Zigeuner als Asoziale in Zwangsarbeiterlagern zu internieren.
Zur polizeilichen Überwachung, Diskriminierung und Erfassung nach 1945

In keiner Behörde wurden die personelle Kontinuität und die strukturelle Organisation so ungebrochen fortgeschrieben wie bei der Polizei. Kaum einer der Hauptverantwortlichen für den Völkermord an den Sinti und Roma wurde zur Rechenschaft gezogen. Im Gegenteil, das System der Erfassung, der Ungleichbehandlung und Diskriminierung konnte nach 1945 weiter arbeiten. In das System der bundesrepublikanischen Zigeuner-Bekämpfung wurden viele der Beamten, die während des Dritten Reiches im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) ihre Erfahrungen bei der Zigeuner-Verfolgung gesammelt hatten, übernommen. Die polizeiliche Totalerfassung der Überlebenden wurde zunächst wieder im Landeskriminalamt in München mit altem Personal weiterbetrieben, das vor 1945 für die Deportation der Sinti und Roma aus Bayern zuständig gewesen war: Hans Eller, Georg Geyer, August Wutz und Joseph Eichberger, der im RSHA die Deportation von Sinti und Roma organisiert hatte. Er wurde zum Leiter der Zigeuner Abteilung berufen. Die Beamten setzten mit den alten Rassenakten aus Berlin altem Nazi-Aktenmaterial, Rassengutachten, Deportationsunterlagen, Merkmalskarteien und sogar dem Verzeichnis der Konzentrationslager-Nummern und unter direkter Anwendung der NS-Ideologie die erneute Sondererfassung und ethnische Diskriminierung fort. In den sechziger Jahren bauten darauf die anderen Landeskriminalämter (LKA) und das Bundeskriminalamt (BKA) in verstärktem Maße auf. Die alten Firmen in neuem Gewand nannten sich nun Landfahrerzentralen. In Karlsruhe etwa wurde Leo Karsten Leiter der Landfahrerpolizeistelle der Landespolizei.

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